Definitiv wahnsinnig
Warum das Wörtchen „sehr“ heute nicht mehr zu genügen scheint
Es ist sehr, sehr lange her, da gab es einmal das Wörtchen „sehr“. Nur selten kommt es vor, etwa als „sehr gut“ etwa bei Noten. Wie lange wird das noch so sein? Wer heute etwas betonen will, greift zu „definitiv“, „enorm“, „tierisch“, „mega“, „ultra“ und dergleichen. Oder , deutlich kräftiger, zu „irre“.
Damit kommen wir zu sehr speziellen Fällen: in die Nähe des Krankhaften, des Pathologischen. Weit weg von „sehr“, auch von „sich irren“ und „Irrtum“. Es zielte einmal auf einen gestörten Geist, auf irres Reden, einen irren Blick, auf Unnormales. Vor langer Zeit gab es offiziell Irrenärzte und Irrenhäuser. Die Obrigkeit fand es ganz normal, sie so zu nennen. Alois Alzheimer beispielsweise arbeitete in Frankfurt von 1888 bis 1902 in der Städtischen Anstalt für Irre und Epileptische.
Deren Mediziner hatten es oft mit sogenannten Wahnsinnigen zu tun. Auch solch ein Begriff auf dem Rückzug. Doch halt, das stimmt nicht ganz. Als „heller“ oder „purer Wahnsinn“ ist er noch sehr unterwegs, und dann, etwa beim Sport, als Wahnsinnsspiel. Oder etwas ist eine „Wahnsinnsarbeit“, ist „wahnsinnig teuer“, und jemand ist „wahnsinng reich“. Wer denkt da noch an die ursprüngliche Bedeutung solcher Vokabeln? Darf man den stark veränderten Gebrauch überhaupt kritisieren?
Kommen wir zu einer Steigerung. Da dreht es sich um Schizophrenes und Schizophrenie. Das sind Fachbegriffe aus der Medizin, genauer gesagt aus der Neurologie und Psychiatrie. Sie deuteten ursprünglich auf eine Trennung, eine Spaltung, zum Beispiel auf eine Bewusstseinsspaltung, auf Störungen beim Verhalten und Wahrnehmen, bei Gefühlen. Die nicht einfache Definition ist ein Fall für Doktorarbeiten. Wie damit heute umgegangen wird, taugt jedoch auch als akademischer Stoff.
In meiner Sammlung finde ich – auch aus seriösen Blättern – Presseschnipsel mit Sätzen wie „Viele Konsumenten sind schizophren: Sie sparen bei Aldi ein paar Cent am Käse – und kaufen dann ihr Bier an der Tankstelle“, „Der Kabinettsbeschluss ist schizophren“ und „Ich will günstig fliegen und trotzdem hervorragenden Service. Bin ich schizophren?“ Dann noch dies: „Der Journalist (xy) setzte im Umgang mit mir eine klug kultivierte Schizophrenie voraus.“
Da geht es gewiss nicht um eine Krankheit mit ernsten Symptomen, sondern um ein gängiges Synonym für etwas Widersprüchliches, Absurdes, Ambivalentes und Paradoxes. Doch Schizophrenie, das klingt einfach imposanter, viel deftiger und zugleich gebildeter. Offenbar zählt nur das. Verrückt, sehr verrückt, oder?