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„Das ist unser Versuch, eine solidarische Vision zu leben“

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Sichtbar sein: Mitglieder des „Project Shelter“ präsentieren im Frühjahr 2016 ihre Initiative auf dem Römerberg in Frankfurt.
Sichtbar sein: Mitglieder des „Project Shelter“ präsentieren im Frühjahr 2016 ihre Initiative auf dem Römerberg in Frankfurt. © Andreas Arnold

Die Initiative „Project Shelter“ organisiert Wohnraum und Unterstützung für Geflüchtete in Frankfurt. Vor allem will sie zeigen, was möglich ist, wenn Menschen die Chance bekommen, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Als selbst organisiertes Projekt in Frankfurt wird Project Shelter oft mit der Vorstellung konfrontiert, dass es eine Utopie praktiziere, die die Menschen in ihrer Stadt vermissen. Und ja, wir sind eine starke Gemeinschaft, die aufrichtige Momente der Ermächtigung und Solidarität erschafft. Aber unsere täglichen Kämpfe gegen die Grenzen und Ausgrenzungen innerhalb dieser Stadt sind alles andere als utopisch. Sie sind ein Produkt dieser Gesellschaft, und unsere Forderungen, diese Grenzen zu überwinden, können nicht weiter aufgeschoben werden.

Durch unsere Schilderungen soll deutlich werden, dass Grenzpolitik und Ausschlüsse nicht nur an den Außengrenzen Europas oder der Nationalstaaten wirksam sind. Sie entstehen auch innerhalb von Städten in vielfältigen Formen, sowohl in Institutionen als auch auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Oder im Alltagsleben, auch wenn sie nicht unbedingt für diejenigen sichtbar sind, die nicht von ihnen betroffen sind.

Viele von uns, die neu nach Frankfurt kommen, stecken in einem Teufelskreis von Obdach- und Arbeitslosigkeit: Um eine Wohnung zur Miete zu finden, braucht man einen Arbeitsvertrag, um wiederum einen Arbeitsvertrag zu bekommen, braucht man eine Wohnung. Erschwert wird der Ausbruch aus diesem Teufelskreis noch durch die staatliche Kontrolle des Arbeitsmarktzugangs für bestimmte Migrant:innen. Der Mechanismus, von dem viele von uns betroffen sind, heißt Vorrangprüfung.

Die Vorrangprüfung ist ein Instrument der staatlichen Behörden, mit dem geprüft wird, ob man für eine bestimmte Stelle in Frage kommt. Wir müssen zuerst einen Arbeitsvertrag und eine Anmeldung für eine Wohnung zur Ausländerbehörde bringen, wenn wir in Deutschland arbeiten und leben wollen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, hier in Frankfurt eine Wohnung ohne eine feste Arbeitsstelle zu finden. Auch wenn wir beides gefunden haben, kann das Arbeitsamt unseren Vertrag ablehnen, denn die Vorrangprüfung stellt fest, ob theoretisch jemand mit deutschem oder EU-Pass diese Arbeit machen könnte.

Und welche Jobs bleiben übrig? Die prekärsten, für die sich niemand im Besitz einer Wahl entscheiden würde, wie solche im Reinigungsgewerbe oder die undankbarsten Positionen in der Gastronomie. Viele von uns haben schon erlebt, wie es ist, bei der Ausländerbehörde einen Arbeitsvertrag einzureichen, nur um die Stelle dann aufgrund der Vorrangprüfung doch nicht antreten zu dürfen. Manchmal dauert es auch ein oder zwei Monate, bis das Arbeitsamt seine „Zustimmung“ erteilt. Häufig haben die Arbeitgeber:innen dann schon jemand anderen gefunden, dem oder der sie den Vertrag geben können, eine Person, die früher anfangen kann. Und weil wir ohne Arbeit für drei oder vier Monate die Miete nicht bezahlen können, müssen wir die Wohnung wieder verlassen.

Sichtbar bleiben: Christian aus Ghana trommelt im Januar 2017 vor dem Café Bistro Project Shelter. Zuvor hatten dort Unbekannte Scheiben eingeschlagen und im Innern Bitumen verspritzt.
Sichtbar bleiben: Christian aus Ghana trommelt im Januar 2017 vor dem Café Bistro Project Shelter. Zuvor hatten dort Unbekannte Scheiben eingeschlagen und im Innern Bitumen verspritzt. © Peter Jülich

Dann beginnt dieser ganze Teufelskreis von Neuem. Einige von uns sind gezwungen, das Land wieder zu verlassen, nachdem vielleicht zu viele Verträge abgelehnt worden sind. Und wenn wir Glück haben und unser Vertrag genehmigt wird, sind wir für ein Jahr an diese eine Arbeitsstelle gebunden. Der Name des Unternehmens ist sogar in unserem Aufenthaltstitel vermerkt und es ist wirklich schwer, die Stelle zu wechseln.

Die Arbeitgeber:innen nutzen das häufig aus, und wir müssen Überstunden arbeiten, ohne bezahlt zu werden, können niemals Urlaub nehmen oder uns krankmelden. Weil wir Angst davor haben müssen, gefeuert zu werden und diesen ganzen Prozess noch mal von vorne beginnen zu müssen oder sogar abgeschoben zu werden, weil unser Recht zu bleiben an diesen einen Arbeitsvertrag gebunden ist.

Nach einem Jahr sind wir endlich „frei“, die Arbeitsplätze zu wählen, auf denen wir arbeiten wollen, ohne eine Vorrangprüfung ablegen zu müssen.

Dieses Verfahren schließt uns von dem Grund- und Menschenrecht aus, unsere Arbeit „frei“ zu wählen. Unsichtbar gemacht, sind wir durch die Vorrangprüfung daran gehindert, in dieser Stadt zu leben und an ihr teilzuhaben.

Zusätzlich zu den Arbeitshindernissen erleben viele von uns Rassismus, indem sie in bestimmten Bereichen der Stadt ständig von der Polizei kontrolliert werden. Einige von uns wurden auf dem Weg zum Supermarkt verhaftet, ins Abschiebegefängnis gebracht und/oder direkt abgeschoben, weil sie keine legale Aufenthaltserlaubnis (mehr) hatten.

Wir verschwinden fast unbemerkt. Diejenigen von uns, die eine Aufenthaltsgenehmigung haben, werden durch diese Praxis diskriminiert, da wir immer erst einmal überlegen müssen, ob wir vielleicht von der Polizei angehalten und kontrolliert werden, wenn wir in bestimmte Gegenden oder zu bestimmten Veranstaltungen in Frankfurt gehen.

Hinzu kommt, dass wir durch solche Praktiken als Kriminelle dargestellt werden, was unser Leben zusätzlich erschwert. Es gibt uns das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein, und fördert den gesellschaftlichen Rassismus, der dieses Gefühl zu einer offenkundigen Tatsache werden lässt. Wir werden bedroht und diskriminiert durch Anhänger:innen rechter Ideologien, sowohl auf der Straße als auch in staatlichen Institutionen, und können unter solchen Umständen nicht einfach unser Leben wie alle anderen leben, Menschen treffen, Lebensmittel einkaufen oder spazieren gehen.

Project Shelter & Der utopische Raum

Seit 2014 arbeiten innerhalb von „Project Shelter“ Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung in Frankfurt gemeinsam gegen Obdachlosigkeit und Rassismus. Das Projekt organisiert Schlafplätze, (finanzielle) Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit für neu ankommende Migrant:innen, die von staatlichen Strukturen ausgeschlossen sind.

Bei den Betroffenen handelt es sich nach Angaben des Projekts meistens um Menschen aus afrikanischen Staaten, die schon länger in anderen europäischen Ländern gelebt haben. Sie seien nach Frankfurt gekommen, „weil sie an anderen Orten diskriminiert und ausgegrenzt werden, aber auch, weil heute an vielen Orten in Europa jegliche Perspektive fehlt.“ Die rechtlichen Hürden bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, von denen im Text die Rede ist („Vorrangprüfung“), sind zwar für andere Gruppen von Geflüchteten inzwischen abgeschafft, gelten aber für die genannten Personen weiter.

Project Shelter setzt sich für ein selbstverwaltetes Zentrum ein, in dem Menschen sicher und in Ruhe ankommen und ihr Leben organisieren können. Nach mehreren ergebnislosen Verhandlungen mit der Stadt Frankfurt am Main über die Forderung, ein Haus dafür zur Verfügung zu stellen, besetzte das Projekt mehrere seit langem leerstehende städtische Gebäude, die jedes Mal geräumt wurden.

Mit der Covid-19-Pandemie wiegen die Kämpfe und Hindernisse, mit denen wir konfrontiert sind, jetzt noch schwerer. Einige von uns, die endlich die Vorrangprüfung bestanden und ihre kürzlich genehmigten Arbeitsplätze verloren haben, müssen neu anfangen. Andere standen kurz davor, das Jahr, in dem sie an eine Arbeitsstelle gebunden sind, zu beenden, und müssen nun befürchten, dass sie den gesamten Prozess erneut durchlaufen müssen oder dass ihr Folgevisum verweigert oder verschoben wird. Wiederum andere wurden in Kurzarbeit geschickt oder haben ihre Gehälter für die letzten Wochen im März, vor der Sperrung, nicht erhalten. Unsere Situation macht sichtbar, dass jetzt in dieser Krise diejenigen ihre Arbeit zuerst verlieren, die als Migrant:innen oder eben Nichteuropäer:innen im Niedriglohnsektor arbeiten.

Was die Spendenbereitschaft betrifft, haben wir das Gefühl, dass es zu Beginn der Pandemie viel Solidarität mit Projekten wie uns gab, aber es wurde sehr schnell weniger. Die letzten Monate haben unsere gesamten Ersparnisse für das Projekt aufgefressen, und wir können mit unserem Unterstützungsniveau von vorher nicht mehr mithalten.

Unsere Idee war schon immer, keine Wohltätigkeitsorganisation zu sein, sondern gemeinsam grundlegend die Einschränkungen und Bedingungen zu verändern, mit denen Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Als erstes Sprungbrett zu dieser Vision haben wir uns vorgenommen, ein selbstverwaltetes migrantisches Zentrum in Frankfurt zu eröffnen. Dieses Zentrum steht für so viel mehr als nur ein Dach über unseren Köpfen. Es verkörpert den Anspruch und die Vision einer solidarischen Gesellschaft, die wir schon jetzt im Alltag zu leben versuchen.

In unserer Gruppe verstehen wir uns als Aktivist:innen, die zusammenarbeiten, unabhängig davon, welche Sprache wir sprechen, welche finanziellen Ressourcen oder welchen Bildungshintergrund wir haben oder woher wir kommen. Es ist die jetzige Gesellschaft, die uns je nach Rechtsstatus, Hautfarbe, Bildungshintergrund, Klasse oder Geschlecht in viele verschiedene Schubladen steckt. Wir sind uns dieser Kategorien bewusst – und suchen gleichzeitig nach Wegen, diese Trennungen gemeinsam zu überwinden.

Wir kümmern uns umeinander und schaffen immer wieder Prinzipien und Strukturen, wie wir das als Gruppe tun können. Wir organisieren und teilen finanzielle Ressourcen auf der Grundlage kollektiver Entscheidungsprozesse. Wir organisieren Schlafplätze, begleiten uns gegenseitig zur Ausländerbehörde oder zum Arbeitsamt und organisieren den Zugang zu rechtlicher Unterstützung und Beratung. Wir versuchen, strukturelle Formen der Diskriminierung in der Gesellschaft zu bekämpfen.

Wir reflektieren dabei die Hierarchien, die zwischen Menschen bestehen, die mehrere Privilegien haben, und denjenigen ohne oder mit weniger Privilegien. Wir sind gemeinsam aktiv, teilen unser Wissen und unterstützen uns gegenseitig, wenn ein bestimmtes Privileg oder bestimmtes Wissen nützlich sein kann. Auf diese Weise kommen wir dem Abbau der Machtverhältnisse und der Hierarchien zwischen uns und um uns herum näher.

Unsere Zusammenarbeit kann daher manchmal aufgrund unserer unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen eine Herausforderung sein, aber sie ist eine Notwendigkeit, um unserer Vision einer anderen Gesellschaft ein Stück näher zu kommen. Sie ist außerdem auch ein Geschenk.

Und doch ist diese Praxis der Solidarität sehr begrenzt und findet nicht außerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prinzipien statt. Es ist ein sehr prekäres Unterfangen, bei dem es im Grunde um die Bewältigung einer Misere geht, die in einer anderen (utopischen) Gesellschaft gar nicht erst entstehen würde.

Mit dem Blick auf die Zukunft heißt das: Wir kämpfen weiter um ein selbstverwaltetes Zentrum und haben eine neue Kampagne gestartet. Die Kommunalwahlen stehen vor der Tür, und wir ahnen schon, dass es wieder so ablaufen wird wie die letzten Male: Einige Parteien werden an uns herantreten, uns sagen, dass sie unsere Forderung nach einem selbstverwalteten Zentrum ganz toll finden, uns ihre Unterstützung versprechen. Und sobald sie in der Regierungsverantwortung sind, wird nichts passieren.

Wir sind es leid, Wahlmaterial zu sein. Gerade jetzt in Zeiten von Corona brauchen wir mehr denn je ein Haus. Und wir werden weiter dafür kämpfen.

Live-Diskussion

Am Donnerstag, 12. November, um 19 Uhr sind Vertreterinnen und Vertreter von „Project Shelter“ bei einer Live-Diskussion im Internet zu sehen und zu hören. Unter dem Titel „Nach der Flucht: Das Recht auf Stadt“ diskutieren sie mit der Soziologin Duygu Gürsel von der Freien Universität Berlin und Bea Schwager von der Anlaufstelle für „sans papiers“ (Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus) in Zürich. Die Moderation übernimmt Felix Trautmann vom Frankfurter Institut für Sozialforschung.

Die Veranstaltung findet im Rahmen der Reihe „Der utopische Raum im globalen Frankfurt“ statt, die von der Stiftung Medico International in Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau organisiert wird. Der Link zur Teilnahme: https://event.webinarjam.com/channel/recht-auf-stadt FR

Außerdem wollen wir weiterhin Menschen auf unsere Situation und auf die ihr zugrunde liegenden Strukturen aufmerksam machen. Und wir wollen weiter daran arbeiten, die Trennungen zu überwinden, die die Gesellschaft uns auferlegt.

Deshalb rufen wir alle Menschen dazu auf, sich unserem Kampf anzuschließen. Bringt eure Ressourcen, Unterstützung und Ideen ein, denn Utopien sind keine Hirngespinste. Sie sind greifbare Zustände, die nicht in der Zukunft, sondern im Hier und Jetzt Wirklichkeit werden können – wenn wir dafür sorgen, dass sie es tun!

Wir wollen eine Utopie, in der es Project Shelter nur noch gibt, weil wir eine schöne Zeit miteinander verbringen wollen, und nicht, weil es diskriminierende Strukturen und Unterdrückung gibt, gegen die wir kämpfen müssen.

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