Coronavirus: „Eine Seuche verschont grundsätzlich niemanden“

Corona hält die Welt in Atem. Ein Gespräch mit einem Medizinhistoriker über begründete Ängste, vorschnelle Hysterie und warum Epidemien wie das Coronavirus die Grenzen der Zivilisation offenlegen.
- Die Angst vor dem Coronavirus steigt.
- Menschen aus Asien sehen sich mit Ausgrenzung konfrontiert.
- Der Medizinhistoriker Heiner Fangerau spricht über den menschlichen Umgang mit Seuchen.
Menschen aus Asien sehen sich seit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie zunehmend mit ängstlichen Blicken bis hin zu rassistischer Ausgrenzung konfrontiert. In China und anderen Ländern wächst die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen der Epidemie. Eine Folge der Globalisierung und typisch für moderne Zeiten? Oder gibt es Parallelen zu den Auswirkungen von Epidemien in der Vergangenheit? Der Medizinhistoriker Heiner Fangerau sieht über die Jahrhunderte Konstanten im Umgang der Menschen mit Seuchen.
Coronavirus: Der Einfluss von Seuchen
Pest, Cholera, Grippe: Immer wieder haben Epidemien die Menschen heimgesucht und mitunter Hunderte Millionen Todesopfer gefordert. Herr Fangerau, wie stark beeinflussen Seuchen die Weltgeschichte?
Der Einfluss ist vermutlich groß, lässt sich aber nicht genau beziffern. So könnten Hunger und Krankheit Triebfedern der Völkerwanderungen im vierten bis sechsten Jahrhundert gewesen sein. Bei der Besiedelung von Amerika durch die Europäer haben die Einwanderer Viren mitgebracht, mit denen sie selbst fertig wurden, von denen die einheimische Bevölkerung, die an diese Erreger nicht gewöhnt waren, jedoch dahingerafft wurde. Es gibt auch im Kleineren die Theorie, dass im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die Deutschen besser mit Typhus umgehen konnten und deshalb den Krieg gewonnen haben.
Die Spanische Grippe wütete mitten im Ersten Weltkrieg. Hatte sie kriegsentscheidende Folgen?
Die Spanische Grippe hat vor rund hundert Jahren zwar viele Millionen Leben gekostet, die Auswirkungen auf den Ausgang des Ersten Weltkriegs halte ich jedoch für gering, da alle Fronten in ähnlichem Ausmaß von der Krankheit betroffen waren. In Europa hatten Epidemien vor allem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts große Effekte auf die Sterblichkeit, bei der es durch Seuchen bedingt eine hohe Fluktuation gab.

Das änderte sich erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert, als die großen Seuchen durch bessere Hygiene und die Sanierung der Städte zurückgedrängt wurden. Das ganze Krankheitsprofil von Gesellschaften verschiebt sich seit dieser Zeit. In der Medizingeschichte wird das als epidemiologischer Wandel bezeichnet.
Coronavirus: Angst vor Epidemien
Ist damit gemeint, dass Herz-Kreislauf-Leiden und Krebs fortan eine größere Rolle spielen?
Genau, diese heutigen sogenannten Volkskrankheiten lösten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach Infektionskrankheiten als Haupttodesursache in den Industrieländern ab. Geblieben ist aber die Angst vor Epidemien. Und auch einige Erklärungsmuster für das Auftreten von Infektionskrankheiten halten sich trotz aller Erkenntnisse der Bakteriologie und naturwissenschaftlich orientierten Medizin hartnäckig. Hierzu gehört auch, dass in manchen Kreisen Seuchen als Strafe für zum Beispiel sündiges Leben betrachtet werden. Diese Idee ist sehr alt. In der Zeit vor der Aufklärung wurden Seuchen wie die Pest als Strafe Gottes angesehen. Verankert wurde der Gedanke im kollektiven Gedächtnis dann zum Beispiel in der Kunst der Zeit. Hierzu gehören bildnerische Darstellungen im Genre des Totentanzes ebenso wie Werke der Weltliteratur. In Boccaccios Novellensammlung „Decamerone“ etwa wird von jungen Leuten erzählt, die vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut geflohen sind.

Als Adelige konnten sich die Protagonisten auf ein Schloss zurückziehen. Auch wenn es sich in diesem Fall um ein fiktives Szenario handelt: Hatten Reiche stets die besseren Chancen, Seuchen zu entgehen?
Eine Seuche verschont grundsätzlich niemanden, der angesteckt wird, vor einer Ansteckung wiederum ist niemand gefeit. Aber Reiche waren und sind strukturell im Vorteil, weil sie sich besser einer Infektionsgefahr entziehen konnten und können als dies ärmeren Schichten möglich ist. Reiche verreisen. Soziale Ungleichheit hat in der Medizin immer eine Rolle gespielt. Das gilt auch schon in der Zuschreibung von Schuld und bei der Suche nach „Seuchenherden“. Die Assoziation von bestimmten Infektionskrankheiten mit bestimmten Bevölkerungsgruppen ist auch in der Zeitgeschichte noch ein großes Thema.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein typisches Beispiel ist Aids. Die Immunschwäche kann jeden treffen. Die öffentliche Wahrnehmung war jedoch: Aids bekommen homosexuelle Männer und Prostituierte. Diese abwehrende Haltung, die sich pointiert in einem „die Seuche haben immer die anderen“ fassen lässt, ist nahezu klassisch für den Umgang von neuzeitlichen Gesellschaften mit Infektionskrankheiten. In dem Moment, in dem die mittelalterliche Sicht, dass Gott Seuchen eben schickt und auch wieder nimmt, nicht mehr trägt, müssen andere Logiken her, um die Welt erklärbar zu halten. Der zentrale Punkt lautet dann, dass man andere Schuldige als Gott braucht. Dabei laufen bis heute stets die gleichen Muster ab.
Wie wirkt sich das Coronavirus aus?
Was für Muster?
Vereinfacht sieht das so aus: Am Anfang steht die Annahme, dass die erkrankten Menschen ganz anders sind als man selbst und die Seuche deshalb keine Gefahr darstellt. Dann wird in einer zweiten Phase bemerkt, dass die Epidemie näher kommt. Heute heißt es immer, die Verbreitung aktueller Epidemien habe allein mit der Globalisierung zu tun. Dabei war es schon spätestens in der Frühen Neuzeit den Zeitgenossen klar, dass Seuchen sich entlang von Handelsrouten bewegten.
Hat sich das schon zu früheren Zeiten negativ auf die Wirtschaft ausgewirkt?
Kommt die Seuche in eine Stadt, so bedeutet das meist eine Quarantäne. Quarantäne wiederum heißt, dass der Handel mehr oder weniger zusammenbricht. Das war früher schon so und Parallelen finden wir auch heute, wenn von den volkswirtschaftlichen Kosten einer Epidemie die Rede ist.
Beim Coronavirus wirken die beschriebenen Mechanismen also auch?
Absolut. Im Moment würde ich sagen, dass die öffentliche Wahrnehmung bei uns die Phase zwei durchspielt: Die Seuche haben vor allem die Chinesen, aber sie kommt näher.
Coronavirus: Die stigmatisierten Gruppen sind immer die, die man als anders empfindet
Sie sagen, dass immer Schuldige gesucht werden. Im Fall des Coronavirus sind es die Chinesen, die das ja in Form von Anfeindungen schon zu spüren bekommen. Könnte es aber nicht doch jede beliebige Volksgruppe treffen?
Meines Erachtens kann die Schuldzuschreibung und die daraus folgende Stigmatisierung jede Volksgruppe treffen, die von der dominanten Gruppe als anders definiert wird. Wenn das Virus aus Mexiko käme, würden pauschal die Mexikaner beschuldigt, das Virus nicht unter Kontrolle gebracht zu haben, da bin ich mir sicher. In der öffentlichen Wahrnehmung aus deutscher Sicht kommen Seuchen dabei oft aus dem Osten, der als fremder wahrgenommen oder präsentiert wird als der Westen.
Aus US-amerikanischer Sicht ist dies oft Lateinamerika. Das, was als anders definiert wird, bildet den Fokus des Vorurteils. Neben Volksgruppen, von denen sich die eigene Gruppe abzugrenzen versucht, können aber auch soziale Gruppen ausgegrenzt werden. Kurz: Die stigmatisierten Gruppen sind immer die, die man als anders empfindet.
Ist es in uns Menschen evolutionär angelegt, dass sich bei Gefahren die Ähnlichen zusammentun, um sich zu schützen? Oder hat sich dieses Verhalten erst im Laufe der Kulturgeschichte entwickelt?
Von anthropologischen Konstanten würde ich nicht sprechen. Die Erklärung, dass es günstig ist, in der eigenen Gruppe zu bleiben, springt zu kurz. Meiner Ansicht nach ist das stigmatisierende Denken und Verhalten beim Umgang mit Seuchen und in anderen Fällen weniger evolutionär als kulturell zu erklären. Hier geht es um Stereotypisierungen. Mit der Abgrenzung gegen das Andere lässt sich das Eigene leichter erklären. Mit Bezug auf Infektionskrankheiten hilft der Fingerzeig auf andere, vor sich selbst zu leugnen, dass man selbst auch betroffen sein kann.
Bedeutet das, dass Seuchen auch die gesellschaftlich mühsam errungene Toleranz gegenüber dem Andersartigen bedrohen?
Das würde ich so sagen. Solche Katastrophen legen die Grenzen der Zivilisation offen.
Coronavirus: Uralte Verhaltensmuster
Auf der anderen Seite ist es auch nachvollziehbar, dass es schwer fällt, sich völlig davon freizumachen, wenn man Angst vor Ansteckung hat.
Stereotypisierung oder auch Schubladendenken erleichtert das Denken und hilft bei der Orientierung. Ich will nicht leugnen, dass so ein Denken in sozialen Kontexten durchaus sinnvoll sein kann, zum Beispiel bei einem höflichen Umgang miteinander: Man weiß, wem man sich wie gegenüber zu verhalten hat, ohne dass dies lange neu ausgehandelt werden muss. Wenn nun die Wahrnehmung vorherrscht, dass eine bestimmte Gruppe eine Seuche hat, so ist es eben auch einfacher, sich von diesen Menschen als Gruppe fernzuhalten, als für jeden einzelnen Menschen ein Risiko zu bestimmen. Das sind uralte Verhaltensmuster, die über die Jahrhunderte hinweg eingeübt wurden. Sie wurden auch absichtlich verstärkt: In der Frühen Neuzeit wurde Leprakranken eine Klapper gegeben, mit der sie auf sich aufmerksam und sich als Kranke sichtbar machen sollten. Sie sollten zum einen warnen, wurden aber zum anderen als Gruppe einheitlich mit dem Stigma der Warnklapper belegt.
Verblassen solche Stereotype irgendwann wieder oder halten sie sich dauerhaft?
Bei der Stereotypisierung handelt es sich um einen nachhaltigen Prozess in mehreren Schritten. Man lernt und verbreitet negative Aussagen über eine Gruppe, vielleicht sogar auf der Basis von Wissen. In der heutigen Debatte zum Coronavirus könnte das so aussehen, dass im Denken verankert wird: „Menschen aus China, die husten, könnten theoretisch infiziert sein.“ Das ist zunächst ja noch keine Wertaussage. Doch im zweiten Schritt wird die deskriptive Aussage zum Vorurteil zugespitzt. Im Beispiel: „Alle Menschen aus China sind mit dem Coronavirus infiziert“. Dieses vorurteilsbeladene Stereotyp wiederum führt beispielsweise im dritten Schritt zu einem rassistischen Verhalten, das eine Gruppe diskriminiert und benachteiligt. Das Stereotyp kann sich dann am Ende so verfestigen, dass die Gruppe aus der Ecke, in die sie gestellt wurde, nicht mehr rauskommt.
Coronavirus: Stereotypisierungen und Stigmatisierungen
Warum läuft das immer wieder so ab?
Dazu gibt es verschiedene Theorien. Zunächst ist es viel einfacher, so zu denken, als komplexe Überlegungen zu Krankheit, Gesundheit und Gruppen anzustellen. Dann hilft Stereotypisierung auch dabei, sich selbst oder seine eigene soziale Gruppe ideologisch zu stützen und zu schützen: Über Stigmatisierung und Stereotypisierung kann man sein eigenes Selbstwertgefühl steigern. Wenn Stigmatisierung dann auch noch ökonomisch die Konkurrenz schwächt, bringt sie vielleicht einen – in meinen Augen unmoralischen – materiellen Vorteil. Am Ende wirken Stereotypisierungen und Stigmatisierungen aus historischer Sicht betrachtet sehr, sehr lange nach.
Das hieße ja, Vorurteile wirken auch dann noch nach, wenn die Seuche überstanden ist.
Das gilt nicht nur für Seuchen. In kollektiven Denkmustern werden Stigmatisierungen und Stereotypisierungen tradiert, und sei es über Märchen, Romane, Filme oder Popkultur. Denken Sie an irgendein negativ konnotiertes Körpermerkmal oder eine Krankheit und schon wird klar, wie dauerhaft die verletzenden Stigmata haften: Beleibte Menschen sehen sich permanent – nicht erst seit der Reformation – mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien undiszipliniert und faul, auch wenn es noch so falsch ist. Auch im Umgang mit HIV wirken alte Vorurteile immer noch nach. Ein interessantes Phänomen ist, dass manche Krankheiten dabei romantisiert, andere dagegen skandalisiert werden. Die Tuberkulose ist ein Beispiel für das Romantisieren von Tod und Krankheit. Syphilis und Cholera bilden dazu die Gegenmodelle, sie sind Prototypen skandalisierter Krankheiten.
Mit welchen langfristigen gesellschaftlichen Folgen rechnen Sie durch das Coronavirus?
Ähnlich wie schon bei der Hongkong-Grippe Ende der 1960er Jahre oder Sars verfestigt das Coronavirus wahrscheinlich die Idee, dass in China, diesem fremden Raum mit hoher Populationsdichte, Seuchen entstehen und sich von dort aus ausbreiten. Man muss dabei auch berücksichtigen, dass die Angst vor Seuchen tief drin in uns Menschen steckt, auch wenn die Infektionskrankheiten in den Industrieländern stark zurückgegangen sind. Aber wie anfangs schon erwähnt: Die letzte große Epidemieerfahrung der Spanischen Grippe ist gerade einmal hundert Jahre her – und hundert Jahre sind als Zeitraum gar nichts in der Menschheitsgeschichte.
Interview: Pamela Dörhöfer
Nachrichten zum Coronavirus
Das neuartige Coronavirus hat in China innerhalb eines Tages erneut fast 100 weitere Todesopfer gefordert. Wie die Nationale Gesundheitskommission am Mittwoch in Peking mitteilte, kamen landesweit 97 Todesfälle hinzu. Die Zahl der Ansteckungen stieg um 2015 Fälle. Sowohl der Anstieg der Todesfälle als auch der neu bestätigten Infektionen fiel offiziellen Angaben zufolge etwas niedriger aus: Am Vortag waren noch 108 Todesfälle und 2478 neue Infektionen gemeldet worden. Staatschef Xi Jinping nannte diese Ergebnisse „von allen Seiten schwer erkämpfte Fortschritte“.
Auf dem chinesischen Festland sind nun 1113 Tote zu beklagen. Bei mehr als 44 000 Menschen wurde eine Infektion mit dem Virus bestätigt, das inzwischen den Namen Sars-CoV-2 erhielt. Die von ihm verursachte Krankheit heißt nun Covid-19 (abgeleitet von: COrona VIrus Disease). Weltweit sind außerhalb des chinesischen Festlands mittlerweile mehr als 500 Infektionen bestätigt, davon 16 in Deutschland. Singapur hat 47 Fälle gemeldet, während Malaysia 18 Infektionen zählt. In Südkorea sind 28 Infektionsfälle gemeldet worden.
An Bord des unter Quarantäne stehenden Kreuzfahrtschiffes „Diamond Princess“ im japanischen Yokohama ist bei weiteren 39 Menschen eine Ansteckung festgestellt worden, wie das japanische Gesundheitsministerium am Mittwoch bekanntgab. Damit erhöht sich die Zahl der Infizierten an Bord auf 174. Die übrigen der rund 3600 Passagiere und Crewmitglieder sollen mindestens noch bis zum 19. Februar auf dem Schiff bleiben. Von den zehn deutschen Staatsangehörigen an Bord ist nach Angaben der deutschen Botschaft bisher keiner infiziert.
Das Kreuzfahrtschiff „Westerdam“, das an mehreren asiatischen Häfen nicht andocken durfte, steuert nun die kambodschanische Hafenstadt Sihanoukville an und soll dort am heutigen Donnerstag anlegen. Dies teilte die Reederei am
Mittwoch mit. Auf dem Schiff befinden sich rund 1500 Gäste und 800 Crewmitglieder, bisher sind keine Fälle von mit dem Coronavirus Infizierten an Bord bekannt. Dennoch hatten Thailand, Taiwan, Japan, die Philippinen und Guam das Einlaufen in ihre Häfen verweigert. (dpa)
Gefährdet die Corona-Krise unsere Demokratie? Warum ist die Zivilgesellschaft verstummt? Müssen wir Freiheitsrechte dem Dogma des Gesundheitsschutzes opfern? Bascha Mika im Gespräch mit dem Historiker Paul Nolte.
Welche Lehren haben wir aus der Spanischen Grippe gezogen? Nicht viele, sagt der Medizinhistoriker Harald Salfellner angesichts der Coronavirus-Pandemie.