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Mehr Alkohol wegen Corona: Zahl der Todesfälle in England stark gestiegen

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Von: Mirko Schmid

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Fußball-Fan mit kreativer Kopfbedeckung: Nicht nur während der EM herrschte in England ein verstärkter Alkoholkonsum. Seit Beginn der Pandemie sind die Zahlen von Alkoholabhängigen und alkoholbedingten Todesfällen stark gestiegen.
Fußball-Fan mit kreativer Kopfbedeckung: Nicht nur während der EM herrschte in England ein verstärkter Alkoholkonsum. Seit Beginn der Pandemie sind die Zahlen von Alkoholabhängigen und alkoholbedingten Todesfällen stark gestiegen. © Loredana Sangiuliano/imago

Die Behörde Public Health England meldet einen starken Anstieg von Alkoholkranken und alkoholbedingten Todesfällen. Grund könnten die Corona-bedingten Lockdowns sein.

London – Verstärkter Alkoholkonsum während der Corona-Pandemie könnte in England zu einem starken Anstieg der Todesfälle durch alkoholbedingte Krankheiten geführt haben. Dies legen Daten der dem Gesundheitsministerium unterstellten Agentur Public Health England (PHE) nahe.

Der Bericht, den zuerst die Tageszeitung The Guardian veröffentlicht hatte, wartet mit besorgniserregenden Zahlen auf. So sei die Zahl alkoholbedingter Todesfälle während der Pandemie und den Lockdowns im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent angestiegen. Den Anstieg alkoholbedingter Todesfälle infolge psychischer Störungen und Verhaltensstörungen beziffert PHE auf elf Prozent, den Anstieg von Todesfällen aufgrund einer Alkoholvergiftung auf 15 Prozent und den von Todesfällen nach alkoholbedingten Lebererkrankungen auf 21 Prozent. Auf diese Lebererkrankungen seien insgesamt rund 80 Prozent der durch Alkohol bedingten Todesfälle zurückzuführen.

Im Zeitraum von 2018 bis 2019 lag der Anstieg von Todesfällen, die durch eine alkoholbedingte Lebererkrankung zurückzuführen waren bei lediglich drei Prozent. Die Verfasser:innen des Berichts kommen zu dem Schluss, dass zwar bereits vor Corona ein Anstieg dieser Fälle festzustellen war, die Pandemie allerdings diese „Trends beschleunigt“ zu haben scheint. Am stärksten seien die Zahlen in struktruschwächeren Regionen festzustellen. Im vergleichsweise wenig wohlhabenden Nordosten sei die Gesamtzahl alkoholbedingter Todesfälle gar um rund 80 Prozent angestiegen – 60 Prozent mehr also als im Landesdurchschnitt.

Forschende weisen Anstieg alkoholbedingter Todesfälle seit Beginn von Corona nach

Zusätzlich zur Datenerhebung führten die Autor:innen eine breit angelegte Umfrage durch. Diese ergab, dass sich die meisten Menschen in England nicht darüber bewusst sind, dass ein Anstieg des Alkoholkonsums während der Coronapandemie stattgefunden hat. Zu ungefähr gleichen Teilen hätten die Befragten angegeben, entweder gleich viel, mehr oder gar weniger Alkohol zu konsumieren als vor den in Großbritannien zum Teil scharfen Lockdowns.

Allerdings sei festzustellen, dass der Anteil der Befragten, die trotz eines steigendem oder hohen Risikos für ihre Gesundheit trotzdem tranken, während der Pandemie höher als in den Vorjahren läge. Darüber hinaus habe der Alkoholkonsum während der Corona-Pandemie vor allem bei jenen stark zugenommen, die schon zuvor deutlich mehr Alkohol zu sich genommen hatten als andere Befragte. Dies deute darauf hin, dass alkoholbedingte Schäden vermehrt bestehen bleiben oder sich gar verschlimmern könnten – gerade bei jenen, die dem Alkohol generell zugeneigt seien.

Die Zahlen werden auch durch eine Erhebung der staatlichen Finanzagentur HM Revenue and Customs (HMRC) gestützt. Diese übermittelte Public Health England einen Anstieg des Verkaufs von Alkoholprodukten in Supermärkten im Jahr 2020 von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt handele es sich dabei um 686 Millionen Liter, die in den Länden mehr gekauft worden seien. Allerdings sei gleichzeitig aufgrund der Lockdowns der Alkoholkonsum im Gastrogewerbe stark zurückgegangen, was den starken Mehreinkauf in den Supermärkten zumindest zum Teil wieder ausgleiche.

Vor allem bereits Vorgeschädigte griffen während der Corona-Pandemie vermehrt zum Alkohol

Rosanna O‘Connor, Direktorin für Drogen, Alkohol, Tabak und Justiz der PHE, gab sich besorgt. Die Bekämpfung schädlichen Alkoholkonsums müsse ein wesentlicher Bestandteil des Plans zur Wiederherstellung der Normalität sein, sobald die Corona-Pandemie im Griff und die Rückkehr zur Normalität erfolgt sei. „Leberkrankheit sind derzeit die zweithäufigste Ursache für einen vorzeitigen Tod von Menschen im erwerbsfähigen Alter. Die Lage wird sich noch verschlimmern, wenn die Covid-Pandemie zu einem langfristigen Anstieg des Alkoholkonsums führt“, so O‘Connor.

NationEngland
HauptstadtLondon
RegierungschefBoris Johnson
StaatsoberhauptKönigin Elisabeth II.
Bevölkerung55.977.178 (Stand 2018)
Fläche130.395 km²

Rajiv Jalan, Professor für Hepatologie an der UCL Medical School, kommt zu dem Schluss, dass der Anstieg der Todesfälle durch alkoholbedingte Lebererkrankungen zwar als erschreckend, nicht aber als unerwartet angesehen werden könne. Die „Krankheitslast“ sei in Großbritannien „sehr hoch“. Seiner Meinung nach deute der Bericht deutet darauf hin, dass der Alkoholkonsum vor allem bei den schon vor der Pandemie am stärksten betroffenen Personen zugenommen habe.

„Viele von ihnen haben in der Pandemie einen Rückfall erlitten und begonnen, wieder übermäßig zu trinken“, so Jalan, „vor dem Hintergrund einer bereits bestehenden Lebererkrankung, die zur Entwicklung eines Zustands namens akutes bis chronisches Leberversagen führt, ist bekannt, dass ein hohes Risiko besteht.“ Nun müsse mehr getan werden, um alkoholbedingte Lebererkrankungen zu bekämpfen. Der Experte rät dringend dazu, dass England dem Beispiel Schottlands folgen sollte: „Die einfachste Intervention wäre die Einführung eines Mindestpreises für Alkohol.“

Zahl von Alkoholabhängigen in England seit Beginn der Corona-Pandemie annähernd verdoppelt

Doch auch viele Menschen, die bisher nicht vorerkrankt waren, könnten bedingt durch die Corona-Pandemie und die Lockdowns nun in Gefahr geraten sein. Insgesamt kommen die Autor:innen der PHE-Studie zu dem Schluss, dass rund eine Million mehr Menschen in England alkoholabhängig seien, als noch vor der Pandemie. Wurden die Zahl von Erwachsenen, die täglich mindestens eine Flasche Wein trinken, vor 2020 noch auf 1,5 Millionen geschätzt, betrüge diese Zahl nun 2,5 Millionen.

Am stärksten habe die Alkoholabhängigkeit in der Gruppe von über 65 Jahre alten Menschen zugenommen, heißt es weiter. Galten vor der Pandemie noch gut 190.000 Menschen dieser Altersgruppe als alkoholabhängig, sei diese Zahl auf inzwischen rund 260.000 gestiegen – ein Plus von 36,8 Prozent. Die am zweitstärksten betroffene Gruppe sei jene der 18- bis 24-Jährigen. Dort waren es vor der Pandemie rund 71.000, die als abhängig galten, nun seien es etwa 170.000, was einen Anstieg von 140 Prozent bedeuten würde.

Angesichts der Zahlen kommt es zur Unzeit, dass verschiedene Regierungen die Ausgaben für Drogen- und Alkoholsuchtdienste um 162 Millionen Pfund gekürzt hatten. Lagen die Ausgaben in den Jahren von 2013 bis 2014 noch bei 877 Millionen Britischen Pfund, betrugen sie von 2017 bis 2018 nur noch 716 Millionen. Acht der neun Regionen Englands haben seit 2014 einen realen Rückgang der finanziellen Mittel für Suchtbekämpfung aus London hinnehmen müssen.

Vermehrt mit Alkoholkonsum einhergehende psychische Erkrankungen seit Beginn der Corona-Pandemie

Dr. Niall Campbell, beratender Psychiater am Priory Hospital Roehampton, sieht einen Zusammenhang zwischen pandemiebedingten Lockdowns und der Zunahme von psychischen Problemen, die eine Alkoholsucht befördern. Gegenüber The Daily Mail sagte der Facharzt, dass er einen signifikanten Zuwachs von über 65-Jährigen feststellen könne, welche sich mit Alkoholproblemen in Behandlung begeben. Menschen dieser Altersgruppe sei besonders gefährdet, da sie während der Pandemie oft stärker von Freunden und Familie isoliert seien. 

„Viele von ihnen haben sich Alkohol zugewandt und aus einem oder zwei Drinks am Abend wurden drei oder vier oder fünf oder sechs“, so Campbell. Außerdem würden diese Menschen oft aus Langeweile und Isolation immer früher am Tag trinken: „Ich habe in meiner Klinik eine stetige Zunahme von über 65-Jährigen beobachtet, die alkoholabhängig geworden sind. Dies geht einher mit erheblichen Folgen für ihre körperliche und psychische Gesundheit. Außerdem leiden die Beziehungen zu ihren Partnern und Familien.“ Zusätzlich seien Menschen dieser Altersgruppe anfälliger für die Gefahren eines zu hohen Alkoholkonsums, insbesondere handele es sich dabei um Lebererkrankungen, Magengeschwüre, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Herzerkrankungen und Hirnschäden.

Lucy Holmes, Direktorin der Nichtregierungsorganisation Alcohol Change UK, fordert die Regierung auf, spezialisierte Suchtbehandlungsdienste für ältere Menschen auszubauen. Die Erhöhung der Alkoholsteuer und die Einführung eines Mindestpreises für Alkohol wie in Schottland und Wales seien Maßnahmen des gesunden Menschenverstands. (Mirko Schmid)

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