Brasilien vor Bolsonaro: Vom Gefühl der Freiheit zur Angst vor der Zerstörung

Die aus Brasilien stammende Autorin Paula Macedo Weiss erzählt in ihrem Buch von einer idyllischen Kindheit. Seit Bolsonaros Präsidentschaft fürchtet sie um die Zukunft des Landes.
Seit ich klein war, verbrachten wir einen Teil unserer Ferien auf der Fazenda Santa Guilhermina. Das war die Lieblingsfazenda meines Großvaters mütterlicherseits. Ich verstand diese Liebe zu diesem Ort und teilte sie. Er lag nicht nur auf dem fruchtbarsten Boden Brasiliens, der „terra roxa“, sondern war auch von ergreifender Schönheit. Eukalyptusalleen eskortierten uns kilometerweit wie treue Soldaten. All die Hügel, der See, die grünen Weiten, Pinien- und Araukarienwälder.
Die Fazenda lag bei Arapongas im Umland von Londrina, und so waren wir dort auch fast jedes Wochenende, solange wir noch in der Gegend wohnten. Die Ferien dort zu verbringen war trotzdem etwas Besonderes. Die ganze Familie meiner Mutter kam dann meist sehr zahlreich zusammen. Das Haus war voll, auch mit Freunden, die für eine Weile dort blieben. Wir Kinder beschäftigten uns mit Dingen, die man auf dem Land machen kann, Reiten, Angeln, Ausflüge in die Wälder, auf Lianen schaukeln, Schwimmen und Boot fahren im See, immer zusammen als Bande. Unvergesslich unsere Ausritte, vor allem zum Wasserfall auf der anderen Seite der Fazenda, die großen Erwartungen auf dem Weg dorthin durch unterschiedliche Landschaften, und wie wir die Gatter auf dem Weg öffneten und wieder schlossen, immer mit ein bisschen Anspannung und Angst vor den Rindern.
Eine Kindheit in Brasilien: Autorin Paula Macedo Weiss erzählt von einer Zeit vor Bolsonaro
Angekommen nahmen wir den abschüssigen Pfad durch das Unterholz, der schließlich den Blick freigab auf das aus großer Höhe herabstürzende Wasser, das unten ein kristallklares natürliches Becken bildete. Wir stürzten uns mit Geschrei ins Wasser, das wie erwartet eiskalt war und uns gut tat und erfrischte. Es gab einen herrlichen Obstgarten mit Avocados, Mangos, Orangen, Feigen, Jabuticaba, den brasilianischen Baumstammkirschen, Kakis und einer unendlichen Vielzahl weiterer tropischer Früchte. Dort spielten wir Verstecken und Räuber und Gendarm und pflückten uns hier und da eine Frucht direkt vom Baum und bekleckerten uns.

Das Mittagessen später am Nachmittag war stets ein Ereignis. Die traditionellen Gerichte türmten sich auf dem Tisch und wir genossen sie sehr, stundenlang zwischen Gesprächen, Geschichten und Lachen. Die Nacht überraschte uns dann immer viel zu früh. Nach dem Baden spielten wir noch entspannt stundenlang vor dem offenen Kamin Pantomime, alle Generationen machten begeistert mit, dramatische Szenen spielten sich ab, auch unglaublich witzige. Oder wir lasen, ganz still, jeder für sich eingetaucht in die unterschiedlichsten Welten, wie in kollektiver Meditation.
In den Winterferien im Juli war es immer kalt, die Winternächte sind dort üblicherweise frostig, und wenn wir bibbernd ins eisige Bett schlüpften, war das Gefühl von Feuchtigkeit so groß, als tauchte man in einen eiskalten Fluss. Dann endlich schlief man nach ein paar unerträglichen Minuten unter Tonnen von Bettdecken ein, die einen fast erdrückten. Morgens lag Raureif auf den Feldern, eine feuchte, weiße Schicht lagerte über allem und wickelte die Welt in eine Decke aus Tau, die sich langsam auflöste, wenn die Sonne herauskam.
Im Sommer saßen wir immer bis spät auf der Veranda und schauten hinaus in diese riesige Welt ohne Ende. Die vollkommene Dunkelheit, der Himmel voller Sterne, nahm uns voll und ganz gefangen, und wir suchten nach unserem jeweiligen Lieblingsstern. Das Kreuz des Südens zeigte sich in seinem perfekten Quadranten, und die „drei Marien“ im Sternbild Orion waren treue Begleiterinnen. Nie wieder habe ich einen so intensiven Himmel erlebt wie auf der Fazenda und am Meer auf der Ilha do Mel.
„Ich war so schockiert und wollte es zunächst gar nicht fassen“ schreibt Paula Macedo Weiss über Bolsonaros Wahlerfolg in Brasilien.
Wenn es heiß war, schliefen wir manchmal in unserer Tarzanhütte auf einem Baum in fünf Metern Höhe. Wir breiteten Maiskolben unter unseren Decken auf dem Boden aus, um dem Ganzen einen noch rustikaleren Anstrich zu geben. Morgens wachten wir dann mit blauen Flecken auf, schlimmer als die Prinzessin auf der Erbse. Vor dem Schlafengehen stellten wir abends schon unsere Becher mit Zucker und Zimt in der Küche bereit, um dann früh am morgen damit in den Stall zu gehen und Sebastião, den Vorarbeiter im Stall, zu bitten, Milch direkt aus dem Euter in unsere Becher zu melken.
Ich hasste Milch, schon der Geruch drehte mir den Magen um, aber was sollte ich machen? Ich liebte das Ritual und wollte nicht anders sein als die anderen. Ich weiß noch, dass ich mich bei der ersten Gelegenheit immer zur Seite schlich und die Milch heimlich wegkippte, ängstlich, dass man mich dabei ertappen könnte. Davor aber gingen wir albern mit unsern dampfenden, schäumenden Bechern zum Puppenhaus, dieser Kopie einer deutschen Berghütte mit einem Brunnen vor der Veranda, kleinen Holzmöbeln wie im Haus der Sieben Zwerge, einer hübschen Küche mit handbemalten Fliesen und einem kleinen Holzherd, der sogar funktionierte.
Dort setzten wir uns an den winzigen Küchentisch, noch ganz mit der Milch beschäftigt und noch völlig schläfrig, und warteten, bis es im großen Haus Frühstück gab. Dort, in einem komplett roten Raum, dessen gesamte Dekoration rot war, ein rustikales und behagliches Ambiente, aber alles irgendwie aus der Zeit gefallen, das mich später an die Installation „Desvio para o Vermelho“ von Cildo Meireles erinnerte, eines der poetischsten und kompromisslosesten Werke gegen die Diktatur.
Käsebällchen, Maismehlkuchen und tropisches Obst - eine idyllische Kindheit im Brasilien der Vergangenheit.
Gierig stürzten wir uns auf die frisch gebackenen Käsebällchen, die warmen Maniokmehlkekse, das hausgemachte Brot, den Maismehlkuchen und die unendlich vielen Gelees und das Obst aus dem Garten. Wenn wir satt waren, drehten wir unsere obligatorische Runde durch den Spielsalon, um uns mit Snooker, Billard und Tischtennis aufzuwärmen und dann endlich zu unseren Abenteuern aufzubrechen.
Wenn es regnete, war der Spielsalon unser Rückzugsort. Wir verbrachten Stunden dort mit allen möglichen Spielen. Einmal wollten wir ausprobieren, wie man Babys macht, legten uns immer zu zweit aufeinander, bekleidet natürlich, und bewegten uns. So also ging das, so einfach! Ich weiß noch, dass ich den übrigen Sommer in dem Glauben verbrachte, schwanger geworden zu sein.
Auf der Fazenda gab es eine kleine Kapelle, und sonntags kam ein Priester aus der Stadt, um für die Angestellten und ein paar Leute von Nachbarfazendas die Messe zu lesen. Wenn wir dort waren, gingen auch wir in den Gottesdienst. Es war eine hübsche Kirche aus Holz, gelb und weiß angestrichen, mit einem Turm, dessen Glocke ich mit Freude läutete. Ich hängte mich an das Seil und ließ mich vom Klang und vom rhythmischen Schwingen des Seils treiben. Dabei beobachtete ich, wie die Leute herbeikamen, und wenn die Kirche voll war, begann die Messe.
Ich übernahm gern die erste Lesung aus der Bibel, stand auf, mit klopfendem Herzen, und konzentrierte mich auf meine Aufgabe, las den Text vor und kehrte dann mit rotem Kopf, aber zufrieden auf meinen Platz zurück. Es war bei einem dieser wenigen Male, dass ich als Kind zur Messe ging, ich weiß noch, wie die Gläubigen schief und ziemlich aus dem Takt Lieder sangen, die ich nicht kannte, und nicht selten musste ich ein Lachen unterdrücken, indem ich die Hand vor den Mund schlug. Eins dieser Lieder ist mir im Gedächtnis geblieben: „Halte dich an der Hand Gottes / und schau nicht zurück / Halte dich an der Hand Gottes und geh / hab keine Furcht / geh voran / und schau niemals zurück / denn sie / wird dich halten…“
Ich fand das albern, aber die Melodie wärmte mich, der Gesang war eine Gemütsregung, die mich beruhigte. Ich gebe zu, dass ich das Lied manchmal sang, wenn ich Halt brauchte. Dann umfing es mich und brachte mich zurück an den Ort, der für mich immer Frieden und Zugehörigkeit bedeutete. (…)
Extreme Rechte in Brasilien: Wie erklärt man das der jüngeren Generation
Seit der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens am 28. November 2018 überlegte ich mir, wie ich wohl einer jüngeren Generation, die schon immer unter den Vorzeichen der Freiheit gelebt hat, den Rückschritt verdeutlichen könnte, den diese Wahl für mein Herkunftsland bedeutete. Ich war schockiert, wie so viele, und wollte es zunächst gar nicht fassen. Wie konnte es sein, dass schon wieder die extreme Rechte an die Regierung gekommen war, und noch dazu auf demokratischem Weg? Wie konnte es sein, dass wir so schnell wieder im Rückschritt begriffen waren und demokratische Werte und Menschenrechte zur Disposition standen, für die wir so hart gerungen hatten?

Noch praktisch im Schockzustand über die Kleingeistigkeit und Ignoranz ließen all diese Fragen und Feststellungen den Keim, der schon länger in mir geschlummert hatte, reifen, Gestalt annehmen und schließlich ans Licht treten: Ich beschloss, meine eigene Geschichte endlich zu Papier zu bringen, aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens, ein coming of age, vor allem, damit meine Kinder nie vergessen, was wir durchgemacht und wofür wir gekämpft haben.
Als sei alles noch nicht genug, kam unser unwürdiger Präsident, Hauptmann der Reserve, Jair Bolsonaro – Sprössling aus den düsteren Kellern unserer Vergangenheit, der die Demokratie verachtet, die Diktatur verherrlicht, in der Folter ein legitimes Mittel im Umgang mit politischen Gegnern sieht und einen Folterer, der für Duzende Toter verantwortlich ist, zu seinem persönlichen Helden erklärt – auf die Idee, den 55. Jahrestag des rechten Militärputschs vom 1. April 1964 nicht nur öffentlich zu feiern, sondern auch Einheiten des Militärs zu empfehlen, das Jubiläum des Putschs zu begehen, mit dem seinerzeit die Diktatur ihren Anfang nahm. Ein Affront nicht nur gegen uns Bürger und Bürgerinnen Brasiliens, sondern vor allem gegen alle direkten und indirekten Opfer der Militärdiktatur.
Buch über Brasilien: Bolsonaro verherrlicht die Diktatur
Ein Regime zu feiern, das so viel Leid über die Bevölkerung gebracht hat, ist unmoralisch und für eine Gesellschaft, die auf rechtsstaatlichen Prinzipien basiert, nicht hinnehmbar. Umso schlimmer, als kürzlich eine Umfrage ergab, dass 82 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen über 16 Jahren nichts über den AI-5 wissen, dieses übelste und widerwärtigste Verfassungsdekret der zivil-militärischen Diktatur, das die individuellen Grundrechte einer modernen und zivilisierten Gesellschaft zunichtemachte und unzählige Menschen zu Gefängnis, Folter und gewaltsamem Tod verdammte.
Das bestärkte mich in meinem Vorhaben, ein persönliches Zeugnis über die Gräuel dieses Notstandsregimes abzulegen. Selbst noch unter der größten Herausforderung unserer Generation, der Covid-19-Pandemie, die unsere Art des Umgangs miteinander verändert hat und uns tagtäglich Verzicht und Neubewertungen abverlangt, stellt sich der gegenwärtig amtierende Präsident gegen die Wissenschaft, gegen das Wissen, die öffentliche Ordnung, die Gesundheit und das Recht auf Leben und Unversehrtheit der Bürger dieses geschundenen Landes. Getrieben vom kindischen Impuls der Verleugnung negiert und relativiert er die Gefahr und verachtet in seiner Ignoranz und Respektlosigkeit jeden Gemeinsinn, jedes Mitgefühl und erschwert auf jede erdenkliche Weise die Prävention vor der Ansteckung und sogar angemessene Behandlung, indem er ungeeignete Medikamente propagiert.
Sein Missmanagement auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge, der Sozialpolitik und der Wirtschaft führt unser Land in eine beispiellos tiefe Krise. Er selbst ist unmittelbar verantwortlich für den Tod von 300 000 Brasilianern und Brasilianerinnen. Seine verheerenden Maßnahmen sind auf unterschiedlichen Ebenen Verbrechen gegen die brasilianische Bevölkerung, aus der Sicht vieler ein Genozid.
Ich hoffe, irgendwann wird er dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Narzisstische und größenwahnsinnige Verblendung haben ihn gar einmal zu der haltlosen Aussage verleitet: Die Verfassung bin ich.
Nein, Senhor Präsident, noch leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat, und niemand steht über dem Gesetz. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen! Das Gestern darf nie wieder die Zukunft werden, aber wenn wir nicht aufpassen, kann es schneller, als wir glauben, doch wieder Gegenwart sein.