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Berlin Fashion Week 2022: Die Mode und der Krieg

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Von: Judith Kohl

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Politisches Statement bei der Schau von Jean Gritsfeldt. Ein Model trägt ein mit roter Farbe überschüttetes T-Shirt auf dem das Wort „Peace“ steht.
Politisches Statement bei der Schau von Jean Gritsfeldt. © THERESA KAINDL

Die Fashion Week in Berlin ist für unsere Grafikerin Judith Kohl ein Stammtermin. Ihr Einblick in die besten Schauen und die Politik auf dem Laufsteg

Und wieder einmal war bei der Berliner Modewoche alles anders als geplant. Zwar hat man sich an die Corona-Pandemie und deren Handhabung inzwischen gewöhnt – doch in diesem März überschattet zusätzlich der russische Krieg in der Ukraine die Veranstaltung.

Die Schauen fanden immerhin trotzdem statt – und auf fast jedem Laufsteg gab es beeindruckende Solidaritätsbekundungen für die Ukraine. „Nicht über die Mode sprechen, sondern durch sie“ war das übereinstimmende Motto der Berlin Fashion Week, das auch von den Modeschöpferinnen und -schöpfern aus dem betroffenen Land unterschrieben wurde. Doch auch abseits des Runways blieb der Krieg ein Thema. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die ukrainische Designerin Ewa Herzog einen Hilfskonvoi in ihr Heimatland auf die Beine gestellt – unter anderem mit Hilfe der österreichischen Kollegin Marina Hoermanseder –, um dringend benötigte Sachspenden vor Ort zu verteilen.

Jean Gritsfeldt

Auch die Veranstalter:innen der Modewoche riefen zu Spendenaktionen auf – und präsentierten sich kurzerhand umgestaltet in den Nationalfarben Gelb und Blau. Unter #standwithukraine zeigt sich die Modewelt politisch wie eh und je.

Die Abschlussschau wurde von Jean Gritsfeldt bestritten – nur leider nicht in Person. Weder der ukrainische Modedesigner noch seine Kollektion konnten das Land verlassen. Auf Initiative des deutschen Teams von „Fashion Revolution“ kamen über 20 Freiwillige und Unterstützer:innen zusammen, um Gritsfeldts Modelle unter seiner Anleitung (per Videocall) zu nähen!

Auf dem Laufsteg zu sehen war eine Statementkollektion, die nichts mit neuen Looks zu tun hatte, sondern die aktuelle Lage in der Ukraine widerspiegelte. Die Schau eröffnet wurde von einem Model, das tanzend, sich windend und verrenkend den Laufsteg entlangkam. Zuvor wurde das aktuelle Kriegsgeschehen audiovisuell in Erinnerung gebracht - ein Gänsehautmoment.

Seine ursprünglichen Entwürfe verwarf der Designer, als sich die Situation in der Ukraine immer mehr zuspitzte. Jetzt geht es nur darum, sich geschützt, gewärmt zu fühlen. Kleidung muss komfortabel sein, ist mehr Funktionsbekleidung denn Mode: weite Oberteile und Hosen, lockere, grob geschnittene Kleider in Grau, Schwarz und Weiß, alles aus Jersey, bedruckt mit Schlagwörtern auf Ukrainisch und Englisch (Love, Liberty, Voice, Light, Peace ...), die Rüstung gegen die unerträgliche Situation sein wollen. Beeindruckend vor allem ein Look: ein Model in einfachem, geknotetem Top und engem, geschlitztem Rock in Midi-Länge, von Kopf über Arme und Oberkörper mit braun-roter Farbe bemalt, die zum Rocksaum austropft ... Eine packende Schau, die lange in Erinnerung bleiben wird. Jean Gritsfeldt at MBFW Berlin.

Sofia Ilmonen

Modenschau von Sofia Ilmonen. Zu sehen sind Models in einem gelben und einem pinken Kleid.
Kleider nach dem Baukastensystem von Sofia Ilmonen. © Judith Kohl

Die finnische Modedesignerin und Gewinnerin des Nachhaltigkeitspreises 2021 des prestigereichen Modefestivals von Hyère eröffnete mit ihrer Schau die Mercedes Benz Fashion Week. Sie präsentierte sowohl handwerklich als auch gestalterisch außergewöhnliche Kleider. Ihre Technik: aus einzelnen Modulen immer wieder neue Silhouetten entstehen zu lassen. Die sogenannten Squares werden mittels Knöpfen und Schlingen verschieden zusammengesetzt.

So entstanden unterschiedlichste Kleider: mit voluminösen Ärmeln und ärmellos, weit körperumspielend und körperbetont, mit verschiedenen Ausschnitten und hochgeschlossen, blickdicht und transparent ... immer knöchellang und monochrom, dafür in teils schön knalligen Farben. Ein gelungener Auftakt der Modewoche und eine Kollektion, die neugierig macht, was aus dem Baukastensystem von Sofia Ilmonen noch alles entstehen kann!

Kilian Kerner

Hingucker: Die Pizzaschachtel als Handtasche bei Kilian Kerner. Germany.
Hingucker: Die Pizzaschachtel als Handtasche bei Kilian Kerner. Germany. © Getty Images for Kilian Kerner

Am Anfang stand die vom Designer selbst erdachte Geschichte von „Claudette und Rico – eine Liebe zwischen Mond und Asphalt“. Daraus entwickelte sich eine Kollektion, die nicht nur vor Augen geführt, sondern auch zu Gehör gebracht wurde.

Auf dem Laufsteg entfaltete sich eine Bandbreite von frei interpretierten Boxoutfits (Rico) und Prinzessinnenkleidern (Claudette), die aus dem jeweiligen Schema fallen – wie die Protagonist:innen der Geschichte selber: Kleider, an denen die seitlichen Teile des Rockes fehlen. Mäntel und Jackets, die von vorne nach hinten gekehrt wurden. Ungewohnt tiefe Ausschnitte bei Anzügen und Overalls für Männer. Handtaschen und Rücksäcke im Pizzaschachteldesign, da die Prinzessin eine Vorliebe für Fast Food hat. Lange, weite Mäntel in Kuttenform mit Kaputze, in Anlehnung an die Boxermäntel. So nahmen die Eigenheiten der erfundenen Figuren auf dem Laufsteg Gestalt an.

William Fan

Modenschau von William Fan. Ein Model trägt einen dunklen Anzug mit Fransendetails.
Zu Gast am Tisch der neuen Kollektion von William Fan. © Judith Kohl

Dieses Mal lud der Designer sozusagen „nach Hause“ ein. Seine gleichnamige Show „Host“ fand im Museum Hamburger Bahnhof statt. Die dortigen Rieckhallen wurden zu Entree, Wohn- und vor allem Esszimmer umgestaltet, um Gäste willkommen zu heißen. Eine lange Tafel wurde mit wunderbar unterschiedlichen Stühlen bestückt und mit Geschirr, Blumen und Kerzen eingedeckt.

Gewohnt souverän auch die Kollektion, die dann serviert wurde: das typische Layering mit immer wieder abgewandelten Formen von Workwear. Moderne Interpretationen der Abendgarderobe mit kurzen Spencerjäckchen und bauchfreien Oberteilen. Das Thema Interieur wurde durch Brokatstoffe und Details wie Fransen und Perlen an der Kleidung aufgenommen. Die Unisexkollektion überzeugt durch ein gelungenes Zusammenspiel zwischen bekannten Elementen und neuen Teilen sowie der Kombination von unterschiedlichen Texturen und Materialien.

Richert Beil

Ein Schneider passt die Hose eines Models an.
Das Team von Richert Beil lässt hinter die Kulissen blicken. © Laura Schaeffer

Das Designerduo, bestehend aus Jale Richert und Michele Beil, ist bekannt für eine inklusive Herangehensweise an Mode – nicht nur bei Schnitt und Passform ihrer Modelle, sondern auch im Hinblick auf die Auswahl ihrer Models. Stereotype Schönheitsideale und Sehgewohnheiten werden aufgebrochen, indem die Unterschiede der Geschlechterrollen auf den Prüfstand gestellt und dekonstruiert werden.

Mit außergewöhnlichen Präsentationen ihrer Kollektionen überraschen sie immer wieder. So auch am vergangenen Freitag: Das Label hat sein Publikum im Rahmen des Projektes Studio

2Retail innerhalb der Fashion Week mit hinter die Kulissen genommen und ihre Mode digital präsentiert. Über sechs Stunden konnte man dem Team um Richert Beil bei den Vorbereitungen zu einer Modenschau über die Schulter blicken und einen Einblick gewinnen, wie aufwendig solche Produktionen sind. Das Ergebnis: acht Schlüssel-Looks.

Anja Gockel

Model trägt eine dunkelrote Lederhose und Harnisch über einer bunten, weiten Bluse.
Überraschend frischer Wind bei der Kollektion von Anja Gockel. © Judith Kohl

Sie ist auf eine charmante Art altmodisch. Sie kennt ihre Kundschaft, hält den Kontakt und adressiert das Publikum gerne persönlich vor und nach einer Schau. Auch die Mode der Mainzerin ist nicht überambitioniert, soll gut passen (in allen Größen!), bequem sein und gefallen. Alles in allem nichts Schlechtes per se. Diese Herangehensweise hat auf jeden Fall ihre Berechtigung, ist aber nicht unbedingt etwas für Fashionistas.

Mit der Kollektion AW 22, wie schon die vergangenen Jahre präsentiert im Foyer des Hotels Adlon, hat sie dennoch überrascht. Außergewöhnliche, ausladende Ärmel; weite, coole Hosen; knappe Harnische über Brust und Schulter. Klassische Muster (Nadelstreifen, Karo ...) in modernen Silhouetten und Schnitten, Layering. Sie bleibt ihrer Maxime von Tragbarkeit und Komfort treu, aber auf zeitgemäße Art und Weise. Gerne mehr davon!

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