Arktisforscher Ono Fleischer: „Dieses Gefühl von unbegrenzter Freiheit“

Der Grönländer Ono Fleischer scheut weder Eiseskälte noch Einsamkeit. Mit Schlittenhunden legt er 20 000 Kilometer zurück, auf den Spuren seiner Vorfahren in Alaska, Kanada und Sibirien. Um ihnen zu zeigen: Die Inuit sind ein Volk – über Landesgrenzen hinweg
Der Motor röhrt, als Ono Fleischer und seine Frau Karo ihre Jolle vom Hafen der grönländischen Hauptstadt Nuuk hinein in den Fjord lenken. Bei 50 Kilometern pro Stunde ist der Fahrtwind beißend. Ono Fleischer trägt eine Schutzbrille. Nach einer Dreiviertelstunde geht der 74-Jährige vom Gas und lässt das Boot in eine Bucht gleiten. Ein Pfad führt hinauf zu einer Hütte, die auf Stelzen in die Tundra gestellt wurde. Davor weht die Landesflagge Grönlands mit dem roten und dem weißen Halbkreis, der untergehenden Sonne über dem Meereis.
Die Kanister mit Trinkwasser schleppt Ono Fleischer langsam und stoisch wie ein Lastesel. Der Rücken macht ihm seit seiner Jugend zu schaffen, als er täglich mit Hundeschlitten Kohle in die Häuser der Siedlung Ilimanaq schaffte. Einen Herzschrittmacher hatte er schon bei seiner letzten großen Expedition 2006, als er das grönländische Inlandeis überquerte. In der Wärme der Hütte schiebt Ono die Ärmel hoch. Auf seinen Unterarmen hat er sich Namen in die Haut stechen lassen: Emil, Elias, Angutivik, Iluuna, Malu, Nukaaka, Ono, Qillaq, Nitta. Er wirkt selbstbewusst, auf eine leise, introvertierte Art.
Seine Frau verabschiedet sich zu einer Tour in die Tundra, sie will an diesem Samstagnachmittag im kurzen grönländischen Sommer Pilze und Engelwurz suchen, als Beilage zum Abendessen. Es soll Rentierbraten geben.
In dem Film „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ aus dem Jahr 1997 hatte Ono Fleischer eine kleine Rolle: In der Eröffnungsszene sieht man einen Jäger an einem Eisloch fischen, bevor ihn eine Flutwelle mitreißt und er dabei ums Leben kommt. Reden musste Ono Fleischer als Schauspieler damals nicht. Aber das passte ihm. Er spricht bedächtig, in diesem Moment wirft er einen langen Blick aus dem Fenster der Hütte über den Fjord. Die Pausen im Gespräch sind nicht unangenehm. Ono Fleischer scheint sich in der Stille wohl zu fühlen.

Ono, was sind das für Namen auf dem rechten Arm?
Das sind die Namen meiner Enkel. Ich habe zehn Enkel und vier Kinder. Die Kinder habe ich mit drei Frauen. Mit keiner war ich verheiratet. Karo ist meine erste Ehefrau. Ich war 57, sie 43, als wir uns das Jawort gaben. Das war 2006, als wir das grönländische Inlandeis von West nach Ost querten. Direkt nach unserer Ankunft in Tasiilaq haben wir uns auf dem Bürgermeisteramt trauen lassen.
Romantisch ... War das so geplant?
Nein. Als Karo auf dem Inlandeis plötzlich weinte, habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten wolle.
Warum war sie traurig?
Wegen der Hunde. „Sie leiden, daran sind wir schuld! Wie können wir ihnen so eine Qual antun?“, fragte sie. Das war der Moment, als ich sagte: „Es scheint, du magst mich. Sonst würdest du diese Tour nicht mit mir machen. Dann könnten wir auch heiraten, wenn wir ankommen.“
Weshalb litten die Hunde?
Sie waren so erschöpft, dass sie nicht mehr aus dem Schnee aufstehen wollten. Wir mussten sie hochziehen, sonst wären sie einfach liegen geblieben und gestorben. Es war mit 650 Kilometern meine kürzeste Fahrt, aber die härteste. Ständig gab es starke Schneewehen. Der Schnee drang in die Pelze der Tiere. Das hat sie ausgezehrt. Dazu die dünne Luft. Der Eisschild ragt mehr als 2500 Meter in die Höhe. Um drei Uhr nachmittags hatte es minus 50 Grad Celsius, obwohl die Sonne schien. Wenn ich ein Stück Robbenfleisch nahm und mit einem Metallwerkzeug draufschlug, klang es hell wie eine Glocke, so tief gefroren war es. Wir fuhren im März. Das ist der kälteste Monat. Ich kann es nicht empfehlen. Die Menschen können damit fertig werden, aber die Tiere nicht.
Haben alle Hunde überlebt?
Ja, alle zwölf. Nach 23 Tagen auf dem Eis sahen wir in der Ferne Schlitten: Jäger aus Isortoq kamen uns entgegen. In der Siedlung verschenkten wir die Hunde, so bekamen die Einheimischen frisches Blut für ihre Zucht. Dann flogen Karo und ich mit dem Helikopter nach Tasiilaq, Ostgrönlands Hauptort, und heirateten auf dem Bürgermeisteramt.
Warum haben Sie all diese Strapazen auf sich genommen?
Die Fahrt von Kangerlussuaq im Westen Grönlands bis Isortoq an der Ostküste war für mich der logische Schluss meiner Expeditionen, die ich zwischen 1975 und 2006 unternommen hatte: Ostgrönland ist der Endpunkt der Wanderungen unserer Vorfahren, die sie von Sibirien über Alaska, Kanada nach Grönland führten. Es war meine sechste lange Fahrt im Laufe von rund 30 Jahren. Danach habe ich mein Buch geschrieben. Es ist auf Grönländisch und Dänisch erschienen. Der Titel lautet: „Ich besuchte meine Stammesbrüder in West und Ost“.
Wie kamen Sie auf die Idee für dieses Lebensprojekt?
Knud Rasmussen, der große Arktisforscher und Ethnologe, und mein Großvater waren Cousins. Als ich in Ilimanaq am Eisfjord von Ilulissat aufwuchs, haben wir in der Stube sehr viel über ihn und seine Expeditionen geredet. Knud war ein Held für mich. Mit sieben Jahren bekam ich die ersten zwei Hundewelpen und baute meinen ersten Schlitten. Schon damals träumte ich von großen Fahrten. Wer diese Reiselust in sich trägt, weiß, dass sie immer wieder in einem hochkommt, wie ein unwiderstehlicher Drang. Wie eine Krankheit, die nur durch die Fahrt kuriert werden kann.
Also Abenteuerlust?
Das Beste ist das Aufbrechen. Ich atme auf. Es ist die absolute Unbegrenztheit und Freiheit. Auf dem Schlitten ist alles, was ich brauche. Werkzeug, um den Schlitten zu reparieren. Ein Gewehr gegen Bären und um Robben zu schießen. Ein Zelt, ein Primus-Ofen, wie schon Knud ihn benutzte. Ich fühle mich autark. Ich kann Monate wegbleiben. Solange ich Lust habe. Aber die Fahrten hatten auch ein Ziel.
Nämlich?
Manche sagten, ich würde Knud Rasmussen imitieren. Aber das stimmt nicht. Knud reiste für die Wissenschaft, mir ging es um die Menschen. Ich wollte ihnen sagen, dass wir ein Volk sind. Es war vor der Zeit des Internets. Viele Inuit in Kanada hatten keine Ahnung, dass es unser Volk auch in Grönland gibt. Dass wir die gleiche Sprache sprechen, die gleiche Lebensweise haben. Ich habe überall in den Siedlungen Schulen besucht, in Altersheimen und Gemeindehallen Vorträge gehalten. Wir haben unsere Kleider und unsere Ausrüstung gezeigt: Wir sind wie ihr!
Sie waren auf den Fahrten nicht allein?
Nur auf der allerersten, das war 1975. Da bin ich von Knuds und meinem Geburtsort Ilulissat hoch nach Qaanaaq im Norden Grönlands, unweit der Stelle, wo er eine Pelzhandelstation einrichtete, um seine Expeditionen finanzieren zu können. Dann wollte ich auf seinen Spuren nach Kanada, aber ich fand viele Jahre keinen Gefährten. Allein ist die Fahrt zu gefährlich. 1992 endlich startete ich mit Jens Danielsen, einem Bären- und Walrossjäger. Ich hatte ihn in Qaanaaq kennengelernt, wo ich einige Jahre Lehrer war an der lokalen Schule, trotz meiner Legasthenie.
Trotzdem haben Sie die Lehrerprüfung geschafft?
Auf Grönländisch ging es noch halbwegs, aber auf Dänisch war es furchtbar. Im Studium ließ ich meine Aufsätze gegen Honorar ins Dänische übersetzen. Die Prüfer wussten Bescheid, aber sie ließen mich nicht durchrasseln. Grönland brauchte Lehrer. Rechnen konnte ich immer. Ich hatte mir einen Fischkutter gekauft, das Geschäft ging sehr gut. Dann fuhr ich als erster Einheimischer Touristen auf einem Schnellboot durch den Eisfjord bei Ilulissat, baute dort Wohnungen und verkaufte sie wieder. Ich habe gut verdient. Aber dann, mit 44 Jahren, begann das, wovon ich so lange geträumt hatte: die erste große Fahrt zu den Stammesbrüdern.
Mit welcher Route?
Wir starteten in Qaanaaq. Mit zwei Schlitten und 27 Hunden ging es zunächst südlich nach Pittuffik. Von dort setzten wir mit einem kleinen Flugzeug über die Baffin Bay nach Kanada über. Ich fürchtete, dass es nicht abheben würde, so schwer beladen war es. Von Qausuittuq auf der Cornwallis Insel fuhren wir Richtung Süden, nach 800 Kilometern erreichten wir das erste Ziel, Taloyoak. Von dort ging es immer weiter nach Westen. An der Küste sind Inuit-Siedlungen aufgereiht, allerdings mit riesigen Abständen. Wir fuhren nach Gjoa Haven, das nach dem kleinen Schiff benannt ist, mit dem der Entdecker Roald Amundsen als Erster die Nordwestpassage durchsegelte, dann weiter bis nach Point Barrow in Alaska, dem nördlichsten Punkt des amerikanischen Kontinents.
Wie lange waren sie unterwegs?
88 Tage. 4000 Kilometer weit sind wir mit dem Schlitten gefahren. Unser Treibstoff war zwei Tonnen Hundefutter, dass wir vorab in die Siedlungen geschickt hatten.
Wollten Sie nicht weiter nach Sibirien?
Doch. Wir warteten 14 Tage auf das Visum. Dann gaben wir auf. In Sibirien wäre die Verständigung ohnehin schwierig gewesen. Die Inuit dort sprechen Russisch. Wir reisten ab – dann kam das Visum doch noch. Zu spät.
Wie waren die Begegnungen unterwegs?
Teilweise sprachen die jüngeren Leute nur noch Englisch: Ab den Sechzigerjahren schickte die kanadische Regierung fast alle Kinder in Internate weiter südlich. Wenn sie mit 16 Jahren zurückkamen, hatten sie ihre Sprache vergessen. Aber in manchen Orten fühlte ich mich, als seien wir zu Hause in Grönland, so gut verstanden wir die lokalen Dialekte. Besonders berührend waren die Begegnungen mit alten Leuten. Viele wollten auf den Hundeschlitten mitfahren. Dabei liefen ihnen Tränen über die Wangen.
Warum waren sie so bewegt?
Weil sie unseren Besuch als Rückkehr der Hunde und damit ihrer Jugend empfanden. In Nunavik, so erzählten es mir alte Leute auf einer weiteren Fahrt sechs Jahre später, sei in den Sechzigerjahren Polizei eingeflogen. Die Polizisten hätten Tausende Hunde erschossen. Auch die in Schneehütten versteckten Tiere seien aufgespürt worden, manche Gespanne sogar in der Wildnis eingeholt und massakriert worden. Es war, als ob man in Europa sämtliche Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen würde. Es war Mord an einer Kultur. Denn ohne ihre Hunde mussten die Leute sich in festen Siedlungen niederlassen. Manche Alten meinten auch, die Erschießungsaktion sei aus Rache geschehen: Die Frau eines Polizisten sei von Hunden totgebissen worden.
Eine Legende?
Die Hunde können tatsächlich gefährlich werden. Ich habe nur meinen eigenen getraut. Als Kind in Ilimanaq ging ich nur auf 50 Meter an ein fremdes Haus heran. Dann ließ ich mich von einem Bewohner zur Tür geleiten. Früher sind immer wieder Kinder totgebissen worden. Das Gesetz in Grönland sieht vor, dass die Hunde immer angekettet sein müssen. Einmal in Kanada verfolgten meine eingespannten Hunde ein krankes und geschwächtes Ren, ohne dass sie noch auf mich hörten. Als sie es eingeholt hatten, war es in wenigen Sekunden zerrissen. Ein anderes Mal riss sich ein Hund meines Reisegefährten Jens los, um einen Eisbären zu verfolgen. Wir warteten einen Tag auf ihn. Aber er kam nicht zurück.
Wie viele Hunde haben Sie auf Ihren Fahrten insgesamt verloren?
Nur einen, obwohl ich rund 250 Hunde hatte. Wenn die Hündinnen läufig sind, werden sie aggressiv. Manchmal fügen sie anderen Hunden im Gespann Bisse zu. Mein Leithund bekam eine Blutvergiftung, nachdem er gebissen worden war. Ich ließ ihn einige Tage auf dem Schlitten mitfahren, aber das Penicillin half nicht. Ich musste ihn erlösen.
Ono Fleischers Frau kommt zurück mit zwei Röhrlingen und ein paar Stängeln Engelwurz. Karo Thomsen Fleischer spricht wenig, überlässt ihrem Mann die Bühne. Als junge Frau hatte sie als erste Grönländerin in einem Team mit anderen Frauen das Inlandeis schon einmal überquert – auf Skiern. Sie hat an der Ilisimatusarfik, der Universität in Grönland, einen Master in Kultur- und Sozialgeschichte erworben. Heute arbeitet sie in Nuuks Stadtverwaltung in einer Task Force, die Selbstmorde unter jungen Grönländern analysieren und verhindern soll.
Karo, wie war das mit dem Heiratsantrag auf dem Eisschild, haben Sie sofort Ja gesagt?
Karo Thomsen: Hab ich das, Ono?
Ono Fleischer: Du erinnerst dich nicht?
Karo Thomsen: Ich weiß nur noch, wie sehr mir die Hunde leidtaten.
Ono Fleischer (lacht): Offenbar war es auf dem Inlandeis so kalt, dass auch die Erinnerung einfriert. Aber ich erinnere mich. Auch an die Einsamkeit und Depression, die mich überkam, nachdem ich von meinen ersten Reisen zurückkehrte. Weil ich meine Erlebnisse nicht teilen konnte. Niemand konnte sie nachempfinden. Aber nach meiner dritten Fahrt, 1998, erlebte ich diese Niedergeschlagenheit nicht mehr. Es war die erste Reise, auf der Karo mich begleitete. Seither sind wir ein Paar. Karo versteht, was ich fühle.
Können Sie ein Beispiel geben?
Eine Fahrt mit dem Schlitten über so viele Tage, das bedeutet immer wieder die gleichen Abläufe, die gleichen Geräusche, etwa das Jammern der Kufen. Dann kommst du plötzlich in eine Siedlung, und im Gemeindehaus gibt es uns zu Ehren Trommeltanz. In Grönland haben wir diese Tradition verloren, wir sind seit vielen Generationen Christen, die dänischen Missionare kamen ja schon vor 300 Jahren, deshalb haben wir Grönländer auch europäische Namen. Aber diese monotonen Gesänge und Schläge: Das geht uns beiden direkt in die Seele. Es passte so gut zu unseren Reisen: Fahren, das Zelt aufschlagen, die Hunde versorgen, Essen machen, immer wiederkehrende Routinen. Du kannst nicht die Füße hochlegen, Fernsehen schauen. Die Natur gibt den Takt vor. Das habe ich sehr gemocht.
Wie viele Schlittenhunde haben Sie jetzt?
Keine. Wir sind nach Nuuk gezogen, um bei Kindern und Enkeln zu sein. Nuuk liegt südlich des Polarkreises. Nur nördlich davon dürfen an der Westküste Grönlandhunde gehalten werden. So sollen Einkreuzungen vermieden werden. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine Fahrten denke.