Das Gedächtnis des Wassers

Der Anthropologe Mark Schoder forscht an einer gefährdeten Lagune im Nordiran. Er beobachtet, wie sie sich sukzessive in einen Sumpf verwandelt. Seine Erfahrungen erzählen vom Versuch des Menschen, die Natur zu kontrollieren – und seinem Scheitern.
Literatur, meint Mohammed zwischen zwei Schlucken Tee, sei immer das Spiegelbild der Menschen in einem Land. Die düstere Schreib- und Filmkultur im Iran zeuge dabei von Traumata aus der Vergangenheit – spätestens seit der Islamischen Revolution 1979. All die Unglücke und die Hoffnungslosigkeit der vergangenen Jahrzehnte stapelten sich aufeinander und verbauten den Blick auf eine optimistische Zukunft, erklärt mir der Anglistik-Doktorand: „We are stuck.“ Festgefahren.
Dieses Gefühl des Festgefahren-Seins ist wortwörtlich zu verstehen: Im Kampf gegen den allgegenwärtigen Schlamm graben die Anwohner:innen der schrumpfenden Anzali-Lagune ihre Boote mit kleinen Baggern oder Schaufeln frei. Die Stege ihrer Boots- und Jagdhütten ragen einen Meter über dem Wasser ins Leere. Auch ich bleibe immer wieder mit meinem Kajakboot stecken. Dabei wird greifbar, dass sich die ehemals größte Lagune des Iran zu einem verletzlichen System aus dünnen Wasserarmen entwickelt. Noch vor 50 Jahren galt die Lagune mit ihren Wasserstraßen als „Tor zu Europa“ und warb mit ihrer Vogelvielfalt und einem scheinbar nie endenden Fischreichtum.

An einem anderen Tag stehe ich mit einem Freund auf der Brücke über einer Schnellstraße. Sie zieht sich kilometerlang mitten durch die Lagune. Unter uns bahnt sich ein Rinnsal mühsam den Weg ins Kas-pische Meer. Die Brückenpfeiler stauen Sedimente an – für Geolog:innen sind sie „das Gedächtnis des Wassers“. Auch der Hafen der Stadt Anzali, die sowohl an der gleichnamigen Lagune als auch am Kaspischen Meer liegt, verkommt zu einem Staubecken für Schlamm und Geröll aus dem Gebirge. Denn die Sedimente trägt es nicht mehr einfach ins offene Meer: Zwei monströse Wellenbrecher aus der Zeit unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad verschränken sich zu einem Hindernis für den lebenswichtigen Austausch von Süß- und Salzwasser.
Wir sehen jetzt die Konsequenzen der Fehler aus der Vergangenheit
Diese Strömungen, meint mein Freund, entsprächen dem Blut in unserem Körper. Brücken, Wellenbrecher, Dämme – abseits ihrer Funktionen für den Menschen hätten sie unkontrollierbare, wilde Auswirkungen. So gesehen erinnern uns die Sedimente als Gedächtnis der Lagune an gebaute Fehler der Vergangenheit – und einen drohenden Infarkt.
Andere Lebensformen lieben jedoch das stehende Gewässer. So muss etwa der „blaue Teufel der Lagune“, die Gemeine Wasserhyazinthe, das Herausspülen ins offene Meer nicht mehr fürchten. Ihre prächtige Blüte täuscht über ihre Gefahr hinweg: Wasserhyazinthen bedecken große Teile der Lagune und entziehen ihr mit langen Wurzeln Wasser und Sauerstoff. Zum „toten Wasser“ tragen sie entscheidend bei.

Vereint im parasitären Komplott tut es ihr das grüne Pendant, der Algenfarn, gleich. Auch er wird als invasiv, als Eindringling wahrgenommen, dabei wurde er vor einigen Jahren für die Viehfutterproduktion reinen Gewissens in die Lagune verpflanzt. Der Algenfarn wurde jedoch nie abgeerntet, sodass er mittlerweile auch den Reisbäuer:innen auf ihren umliegenden Feldern Sorgen bereitet.
Da diese auch mit Reisparasiten zu kämpfen haben, nutzen sie nur umso mehr staatlich subventionierte Pestizide. Im Kampf gegen die internationalen Sanktionen gibt die nationalistische Agenda vor, aus wenig Boden viel Ertrag zu holen. Zusätzlich zum toxischen Eintrag von Pestiziden fließen die Lagunen- Zuflüsse an offenen Mülldeponien vorbei und nehmen toxische Abwässer auf.
Noch vor 40 Jahren holten die Menschen ihr Teewasser aus der Lagune, wuschen ihre Teppiche und fingen Fische mit der bloßen Hand. Heute muss ich mit meinem Kajak Autoreifen, Sofagarnituren und einem toten Rind ausweichen. Alles leckt, alles ist kontaminiert. Das Ergebnis dieses menschengemachten Wandels ist eine ökologisch verarmte Landschaft, die ein Geograph bereits in den 1990ern mit Messungen nachwies: „Damals betrug der Sauerstoffgehalt stellenweise null Prozent. Kein Leben kann dort existieren.“ Sein eigentlicher Auftraggeber, die nationale Umweltbehörde, untersagte ihm die Weitergabe dieser kritischen Daten.

Generell habe man es mit einem verschwenderisch-korrupten Regierungsapparat zu tun, der kein Interesse an einer lebendigeren Ökologie hege, sagen Kritiker:innen. Bürger:innen könnten in Entscheidungsprozessen nicht mehr mitbestimmen und fokussierten sich rein auf den ökonomischen Wert der Lagune. Auch wiege der kurzfristige Eigennutzen Einzelner schwerer als kollektive Kraftanstrengungen. Dabei sind auch die Anwohner:innen Teil des Problems, wenn sie Schilf zur Landgewinnung anzünden, die Lagune überfischen und Müll achtlos wegwerfen.
Diese beidseitige, verantwortungslose „Entsorgung“ basiert jedoch auch auf wirtschaftlichen Notsituationen, die Politiker:innen lindern könnten. Erste Schritte wären ein subventionierter Wechsel zu wassersparsameren Nutzpflanzen, der Einsatz von Wasserfiltern – und von schilffressenden Enten. Noch passiert nichts.
Erhält der lokale Fischer aber keine Unterstützung, wird er auch weiterhin Verbote missachten und auf der täglichen Tour zu seinen Fischernetzen gefährdete Vögel schießen. Die Folge ist das Verharren in gegenseitigen, tatenlosen Anklagen – tatkräftige, intervenierende Sorge bleibt aus.
Der Stör ist ebenfalls massiv gefährdet - und damit auch der Kaviar
In den daraus entstehenden Lücken werden mitunter gegenseitige Abhängigkeiten im Ökosystem missachtet. So haben iranische Fischer im Kaspischen Meer beispielsweise die Tyulka-Sardine überfischt – das Hauptnahrungsmittel des berühmten Störs. Nur noch selten zappeln sie in den Netzen. Während früher nordiranische Kinder zu fingerdick beschmierten Kaviar-Broten genötigt wurden, sind Stör-Eier heute eine absolute Rarität auf dem alten Bazaar Anzalis.
Der Stör leidet nicht nur unter der Jagd auf ihn und seine Nahrungsquellen, sondern auch unter dem sinkenden Wasserspiegel – diesmal vom Kaspischen Meer. Immer weiter zieht es sich zurück – aufgrund des Klimawandels, aber auch, weil Russland die Wolga stufenweise staut. Die kapitalistische Reaktion auf den Rückzug des Wassers folgt postwendend: Iranische Immobilienmakler:innen bieten das neu „gewonnene“ Land am Meer und in der Lagune zu horrenden Preisen feil. Die ersten, besser betuchten Klima-Migrant:innen aus dem überhitzten Süd- und Zentraliran lassen sich im milden Norden nieder und kurbeln damit Immobilienspekulation und die Gefahr ethnischer Konflikte weiter an. So bekommt „Invasivität“ eine menschliche Dimension.
Zugegeben: Diese Ketten der Zerstörung lesen sich wie einer der vielen Abgesänge ehemals lebendiger Ökosysteme im Anthropozän – dem Zeitalter, in dem menschliche Störungen unheimliche Ausmaße annehmen. Auch entsteht vielleicht eine komfortable, künstliche Distanz – denn die Lagune scheint aus deutschen Wohnzimmern heraus fern. Was jedoch für den Nordiran gilt, trifft auch auf unzählige deutsche Waldbäche und Grundwasserspeicher zu: Sie sind chronisch übernutzt und drohen auszutrocknen. Nur sind die Störungen der Anzali-Lagune deutlich spürbarer und halten uns einen anthropogenen Spiegel vor, oder besser: eine Glaskugel mit Einsichten auf das, was auch uns in Deutschland droht.
Die Lagune wäre zu retten - wenn sich die Politik endlich bewegt
Noch ist die Lagune aber nicht tot, auch wenn viele das Gegenteil behaupten. Dieser Fatalismus verursacht häufig tatenlose Ohnmacht. Wir brauchen jedoch offene Neugierde, oder wie es eine Ökologin ausdrückte: „Ein soziales Streben danach, etwas zu tun.“ Und doch will und kann ich Mohammeds düsterem Literaturvergleich zu Beginn kein Happy End entgegensetzen. Vielmehr kommt an der Anzali-Lagune Schönheit und Zerstörung gleichermaßen zusammen. Das Wasser formt faszinierende Landschaften, die Wandervögel, laichende Fische und massenhaft Tourist:innen anlocken. Auch deswegen sorgen viele Anwohner:innen aktiv für die Lagunenökologie. Sie bilden Kinder zu „Erdrettungsagent:innen“ aus oder fordern einen Rückbau von Infrastrukturen und Strömungsblockaden. Sie siedeln neue Fischarten an und kümmern sich um die Vogelvielfalt. Es scheint, dass den Gemeinschaften rund um die Lagune ihre Verletzlichkeit als Teil des ökologischen Netzes mehr und mehr bewusst wird.
Klar ist: „Die Natur“ ohne menschliche Interventionen wird es nicht mehr geben. Auch ziehen diese Konsequenzen nach sich, die nicht alle kontrollierbar sind. Eine verantwortungsvolle Aufmerksamkeit für diese wilden Effekte kann die Austrocknung der Lagune und andere zerstörerische Kaskaden nicht verhindern. Die frühere Pracht der Lagune gibt es nicht mehr. Und doch können wir anhand ihres Wandels neue Wege ergründen, wie wir zusammen mit anderen Lebensformen die Ruinen des Anthropozäns bewohnbar machen können.
Mark Schoder studiert Sozialanthropologie und Humangeographie an der Frankfurter Goethe-Universität. Sein Fokus liegt auf Umweltstörungen im Anthropozän, sein regionaler Schwerpunkt ist der Iran.