Der Albtraum vom schnellen Fliegen

Vor zwanzig Jahren ist das Überschallflugzeugs Concorde bei Paris abgestürzt. Heute mehren sich die Nachfolgeprojekte. Wenn da bloß nicht die Klima- und die Coronakrise wäre.
Der Absturz der Concorde ging in die Fluggeschichte ein. Er forderte 113 Menschenleben und bedeutete auch den Todesstoß für ein legendäres Kapitel der zivilen Luftfahrt. Die Umstände waren dramatisch: Das schnellste Zivilflugzeug der Welt crashte nämlich sehr langsam, fast in Zeitlupe.
An jenem 25. Juli 2000 startete die Air France-Maschine nachmittags in Paris zu einem dreistündigen Flug nach New York. Wahrscheinlich wegen eines Metallteils, das ein vorhergehendes Flugzeug auf der Startpiste verloren hatte, platzte ein Concorde-Reifen. Das vier Kilo schwere Hartgummiteil schlug in die linke Tragfläche, das dadurch entweichende Kerosin entzündete sich im Kontakt mit dem Düsentriebwerk.
„Air France 4590, Sie haben Feuer!“ informierte der Kontrollturm das Cockpit umgehend. Die Maschine war aber bereits zu schnell, um noch bremsen zu können. Der Pilot Christian Marty musste sie hochziehen – aber auf einer Höhe von 60 Metern die beiden linken Motoren stoppen. Mit gesenkter Nase verlor der weiße Supervogel an Höhe, mit einem langen Feuerschweif überflog er noch die Weizenfelder westlich des Flughafens Roissy.
Was im Passagierraum vor sich ging, ist nicht bekannt. Der Bordkommandant versuchte laut Gesprächsprotokoll diverse Manöver. Eine Minute und 46 Sekunden später – eine Ewigkeit – meldete er sich zum letzten Mal mit den Worten: „Zu spät, keine Zeit mehr.“ Elf Sekunden später stürzte die Concorde in ein – glücklicherweise fast leeres – Hotel. Überlebende Gäste berichteten von einer unglaublichen Hitze. Einer hüllte sich in nasse Tücher und versuchte, zum Brandherd vorzudringen – es war aussichtslos. Im Flammeninferno starben vier Hotelgäste sowie alle 109 Concorde-Insassen, darunter 96 Deutsche aus Mönchengladbach, die auf dem Weg zu einer Karibikkreuzfahrt waren.
Am Ende war auch das britisch-französische Überschallabenteuer. Es erholte sich nie mehr von dem furchtbaren Crash. Anderthalb Jahre später hoben zwar wieder ein paar Concorde-Maschinen ab, doch 2003 stellten British Airways und Air France den Betrieb endgültig ein. Zwei letzte Pannen hatten gezeigt: Das vielleicht spektakulärste Zivilflugzeug aller Zeiten, das seinen Jugfernflug 1969 absolviert hatte, war nicht mehr geeignet für das 21. Jahrhundert.
2010 fand der Prozess zur Absturzursache statt. Ein Pariser Gericht verurteilte die US-Airline Continental, weil sie eine unsachgemäß verleimte Lamelle auf der Startpiste von Roissy verloren hatte. Deren Anwälte zitierten erfolglos Zeugen, laut denen das Unglücksflugzeug schon 700 Meter zuvor gebrannt habe. Sie belegten zudem, dass Concorde-Reifen – die wegen der hohen Startgeschwindigkeit besonders konsistent sein mussten – schon bei fünf früheren Takeoffs geplatzt waren.
Da die Hinterbliebenen bereits Jahre zuvor ingesamt 170 Millionen Euro erhalten hatten, blieb es folgenlos. Viele sahen darin eine Retourkutsche gegen die Amerikaner. Diese hatten die Concorde auf Druck der Luftfahrts- und Rüstungslobby um Boeing stets benachteiligt. So untersagten sie aus Lärmgründen kommerzielle Überschallflüge auf US-Gebiet - der britisch-französische Deltaflügler konnte deshalb nur über dem Atlantik mit seiner Spitzengeschwindigkeit von 2200 Stundenkilometern fliegen.
Dies war indes nicht der einzige Grund, weswegen die elegante Concorde nie rentabel war. Daran ändert auch die enge Bestuhlung in dem „fliegenden Bleistift“ nichts. Noch weniger die spritverschlingenden Triebwerke. Ihre Nachbrenner erreichten 120 Dezibel – abgesehen vom bombengleichen Überschallknall. Der war im Flugzeug selbst nicht zu hören – weshalb die darüber enttäuschten Passagiere ein Glas Champagner erhielten, wenn die Maschine die Schallmauer durchbrach. Dafür klirrten bei den Flughafenanwohnern die Gläser im Geschirrschrank.
Trotz allem ist der Traum vom schnellen Fliegen mit dem Concorde-Crash nicht beendet. Immer wieder werden Überschall-Projekte präsentiert – in den vergangenen Jahren wieder häufiger. Alle geben vor, die Lehren aus dem Concorde-Abenteuer gezogen zu haben. Das amerikanische Startup Boom will im Herbst ein Eins-zu-drei-Modell eines Überschall-Jets „Overture“ für 55 Passagiere starten lassen. Die eigentliche Betriebsaufnahme ist allerdings erst für 2030 geplant.
Das stimmt Experten skeptisch. Allzu viele groß angekündigte Projekte versandeten über die Jahre. Wer erinnert sich noch daran, dass Boeing dem Airbus-Großflugzeug A380 mit einem pfeilschnellen „Supersonic“-Flieger Paroli bieten wollte?
Die beiden technischen Hauptprobleme der Concorde – Lärm und Spritverbrauch – bleiben bisher ungelöst. Der US-Konzern Lockheed Martin und die Raumfahrtbehörde Nasa wollen 2021 ein Testmodell ihres „QueSST“ (“Quiet supersonic transport“) fliegen lassen, das sogar den Überschallknall vermeiden soll. Ob die Endversion jemals Europa in viereinhalb Stunden mit Australien verbinden kann, steht aber bis auf weiteres in den Sternen.
Denn das Geschäftsmodell klemmt auch 17 Jahre nach dem Concorde-Ende. Wer schon mehrere tausend Dollar hinblättert, um in weniger als drei Stunden von London nach New York zu reisen, verlangt Platz und Komfort - in einem Großraumflugzeug rechnet sich das aber nicht, wie schon die Concorde bewiesen hat.
Lockheed plant deshalb auch einen Überschall-Businessjet namens Aerion. Er bietet nur zwölf Passagieren Platz, hat aber den Vorteil, dass Geschäftsleute unter Zeitdruck nicht an Flugpläne gebunden sind. 50 Bestellungen sollen schon eingegangen sein.
Diese pfeilschnellen Kleinflugzeuge haben ein anderes Problem: Sie stehen, was den CO2-Ausstoß pro Kopf anbelangt, völlig quer zur Klimadebatte. Egal, wie entwickelt seine Triebwerke sind, ist ein Überschallflieger ein Spritfresser. Laut dem „Internationalen Rat für sauberen Transport“ (ICCR) verschlingt er pro Passagierkilometer sechsmal soviel wie ein herkömmliches Flugzeug.
Boom behauptet zwar, „Overture“ fliege trotz mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit „hundertprozentig klimaneutral“. Wie, bleibt aber völlig schleierhaft. Der Hinweis wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch, ein Projekt zu retten, das von der Coronakrise noch stärker getroffen ist als die gesamte Luftfahrtindustrie. Die Annahme sei erlaubt: Die Concorde dürfte noch ein weiteres Jahrzehnt lang das einzige realisierte Überschallflugzeug von Bestand gewesen sein.