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Anschlag in Hanau: Zu wenig gelernt

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Von: Yağmur Ekim Çay

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Hanau, 01.02.2023
Im Jugendzentrum k-town in Hanau werden die Erinnerung an die Opfer aufrechterhalten. © Michael Schick

Auch nach dem Terroranschlag von Hanau werden migrantische Orte und Menschen als kriminell markiert. Das muss sich ändern. Der Leitartikel.

Hanau - Vor drei Jahren fielen in Hanau Schüsse am Heumarkt und im Stadtteil Kesselstadt. Ein Rassist nahm Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoglu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin das Leben. Für viele Menschen dreht sich die Welt seitdem anders.

Der rassistische Attentäter konnte sich zu seinen Schüssen am 19. Februar 2020 ermutigt fühlen. In Deutschland wurden Klischees über „kriminelle Ausländer“ oder „Clankriminalität“ verbreitet, als hätte es die NSU-Mordserie der Jahre 2000 bis 2007 nicht gegeben, bei der die Ermittlungsbehörden „kriminelle Türken“ als Tatverdächtige handelten und die Medien über „Dönermorde“ schrieben. Medien, Politik und Polizei markierten Orte und Menschen als „kriminell“. Diese Stigmatisierung kann rassistische Attentate befördern, so wie in Hanau.

Die Aufarbeitung zum Anschlag in Hanau geht langsam voran, und es kommen immer noch neue Details ans Licht, etwa zu den Razzien in Kesselstadt: Der Kurt-Schumacher-Platz und die Arena Bar waren lange im Fokus der Polizei und der Stadt. Die Rede war von „unerwünschten Personen“ und einem „dreckigen Ort“.

Die jungen Männer, die sich in der Nachbarschaft trafen, wurden wie Schwerkriminelle behandelt und durch Kontrollen kriminalisiert, auch wenn sie nichts getan hatten. Jahrelang fanden dort Personenkontrollen und Razzien statt. Die Arena Bar und Kesselstadt wurden markiert als „krimineller Hotspot“.

Stigmatisierung der migrantischen Orte gibt es nicht nur in Hanau

Was bedeutete es für den Attentäter und seinen Vater, die ein paar Hundert Meter entfernt wohnten, jeden Tag Razzien und Kontrollen zu sehen? Was bedeutete diese Markierung für die beiden Rassisten? Es hat ihr Weltbild bestärkt und passte sehr gut zu dem, was sie bereits dachten: „Ausländer sind kriminell. So kann es nicht weitergehen.“

Terror in Hanau

Online-Dossier: Die Frankfurter Rundschau begleitet seit dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 die Familien - und analysiert die politischen Konsequenzen. Gebündelt im Online-Dossier „Terror in Hanau“.

Multimedia-Reportage: FR-Redakteurin Yağmur Ekim Çay und FR-Redakteur Gregor Haschnik haben mit Hinterbliebenen gesprochen, ihre Geschichte und den Stand der Recherchen aufgeschrieben. Fotograf Michael Schick hat die Menschen porträtiert und die Orte des Geschehens und des Gedenkens in Bildern festgehalten. Crossmedia-Redakteurin Monika Gemmer hat eine multimediale Web-Story mit interaktiven Grafiken produziert.

Bis heute scheint Deutschland immer noch zu wenig aus den rechtsextremen Terroranschlägen gelernt zu haben. Eine solche Stigmatisierung der migrantischen Orte gibt es nicht nur in Hanau, sondern auch in Berlin-Neukölln und vielen anderen deutschen Städten. Innenministerin Nancy Faeser spricht davon, „kriminellen Clans“ und „gewaltbereiten Integrationsverweigerern knallhart ihre Grenzen zu zeigen“.

Die jüngsten Diskussionen über die „Silvesterkrawalle“ sind auch ein gutes Beispiel dafür, etwa wenn Friedrich Merz von „kleinen Paschas“ spricht und Politiker:innen unverschämt nach den Vornamen deutscher Staatsbürger:innen fragen, um eine angebliche „Ausländerkriminalität“ zu belegen. Die Politik spielt mit rassistischen Diskursen und fördert damit Rechtspopulismus. Es mangelt an Selbstkritik und Lernbereitschaft.

Dieser Mangel zeigt sich auch im Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags. Das respektlose Verhalten mancher Abgeordneter und deren geringe Bereitschaft zur Aufarbeitung zeigt eines: Die Überlebenden und Angehörigen müssen neben der Trauer und Wut, die sie ertragen müssen, nach drei Jahren immer noch um Aufklärung kämpfen.

Ihnen wird viel versprochen, aber vieles sind leere Worte. Verantwortliche, die dieses Versagen nicht verhindert haben, etwa Hessens Innenminister Peter Beuth und der damalige Präsident des Polizeipräsidiums Südosthessen, Roland Ullmann, haben sich für die Fehler noch nicht entschuldigt.

Anschlag in Hanau: Migrantisierte Menschen können keine Geschichten mehr über Einzeltäter hören

Seit dem 19. Februar 2020 dreht sich die Welt für viele Menschen mit Migrationsgeschichte anders, denn sie wissen, dass sie in ihrem migrantisierten Viertel ihres Lebens nicht sicher sein können. Sie wissen, dass Angehörige danach um Aufklärung kämpfen müssen. Sie wissen genau, wozu Diskurse wie jene um „kleine Paschas“ führen können. Migrantisierte Menschen können keine Geschichten mehr über Einzeltäter hören. Politik, Behörden und Medien müssen lernen, Diskurse anders zu führen, und selbstkritischer werden.

Der Untersuchungsausschuss muss in der kurzen verbleibenden Zeit seine Verantwortung ernster nehmen und sich für eine vollständige Aufklärung einsetzen, wie bei den Fragen zum Notruf und zum Notausgang. Auch der Vater des Täters muss im Blick der Behörden bleiben, und seine Rolle bei dem Anschlag muss stärker hinterfragt werden.

Die Behörden schulden nicht nur den Überlebenden und Angehörigen, sondern allen, die das Vertrauen in Deutschland verloren haben oder es zu verlieren drohen, Aufklärung und Veränderung. Und das muss mit Hanau beginnen. (Yağmur Ekim Çay)

Die Multimedia-Geschichte zum 3. Jahrestag des Anschlags in Hanau kann auf www.fr-story.de/hanau gelesen werden.

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