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Wo Israels Fahnen wehen

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Von: Inge Günther

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Kundgebung rechtsgerichteter Israelis.
Kundgebung rechtsgerichteter Israelis. © Ariel Schalit/dpa

Zur 75-Jahr-Feier sind in Israel Proteste geplant. Zu viele Probleme sind ungelöst – die Analyse.

Israelische Unabhängigkeitsfeiern erzeugen alljährlich eine Fahnenschwemme. Ob in Jerusalem, Tel Aviv oder auch in der Peripherie – allerorten werden Balkone in den Nationalfarben beflaggt und weiß-blaue Fähnchen an Autospiegel geklemmt. Und, das versteht sich von selbst, schmücken jede Menge Flaggen mit dem Davidstern sämtliche staatstragenden Festtagsakte.

So ist es auch diesmal. Aber etwas ist anders, ausgerechnet an diesem besonderen Jubiläum, dem 75. Jahrestag der israelischen Staatsgründung. Durch das Land geht ein Riss. Die Nationalfahnen verbinden sich seit 17 Wochen schon mit den Massenprotesten gegen die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanjahu und deren antidemokratische Vorhaben. Keine Demo, keine Kundgebung gegen die sogenannte Justizreform – ein euphemistischer Name für den Angriff auf die Gewaltenteilung, die nicht einem weiß-blauen Fahnenmeer gleicht.

Unter dem öffentlichen Druck hat Premier Netanjahu das kontroverse Gesetzesprojekt zwar über die Feiertage hinweg auf Eis gelegt, aber verschoben ist nicht aufgehoben. Zumal die Aussichten auf einen Kompromiss eher begrenzt sind und die Kluft zwischen nationalistischen, religiösen Kräften und liberalen Säkularen schier unüberwindbar scheint. So sehr sich auch Staatspräsident Jitzchak Herzog darum bemühen mag.

Selbst zum 75. Unabhängigkeitstag am Mittwoch waren Proteste geplant. Um eine störungsfreie Staatszeremonie zu sichern, die traditionell am Vorabend mit dem Anzünden der Zwölf Fackeln auf großer Bühne zelebriert wird, hatte Ministerin Miri Regev gar angewiesen, notfalls statt der Live-Übertragung die Aufnahmen der Generalprobe auszustrahlen. Nordkorea lasse grüßen, hieß es in bissigen Kommentaren.

Nationalfeiertage bieten sich zwar zum Beschwören der nationalen Einheit an – was Herzog und auch Netanjahu seit Tagen bereits tun. Doch mit Appellen, „als einig Volk“ das gemeinsame Haus zu beschützen (Herzog), beziehungsweise „das Gefühl, Brüder zu sein, zu stärken“ (Netanjahu) lassen sich die aufgebrochenen Konflikte nicht wegzaubern. Schließlich geht es um Grundsätzliches, sozusagen das Eingemachte.

Die einen halten die Fahnen hoch als Symbol für ein Israel, wie sie es schätzen: weltoffen, demokratisch und innovativ. Die anderen rammen bevorzugt Fahnenstangen ein, um Besitzansprüche auf fremdem Land zu markieren. Ihr Ziel ist ein Groß-Israel, nicht unähnlich einer Theokratie.

Immerhin die Protestbewegung scheint einen weit längeren Atem zu besitzen, als erwartet. Ihr Israel ist zumindest näher dran an der Unabhängigkeitserklärung, verkündet 1948 David Ben-Gurion, worin der Staat „all seinen Bürgern ohne Unterschiede von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung“ verheißt. Mit solchen Idealen haben Netanjahus Verbündete (und das bezieht sich nicht nur auf die Rechtsextremisten im Kabinett) wahrlich nichts am Hut.

Allerdings wird in nahezu allen politischen Lagern ein Problem ignoriert, das Israel als Demokratie mit jüdischer Mehrheit stärker gefährdet als die Mullahs in Iran. Die Rede ist von der anhaltenden Besatzung der 1967 eroberten palästinensischen Gebiete. Stetiger Quell des Unfriedens, der Militanz, die Terror und Gewaltherrschaft erzeugt. Eigentlich eine unhaltbare Lage, die nach politischer Lösung schreit. Nur dass keiner mehr daran glaubt.

Muss man nun ausgerechnet am Unabhängigkeitstag darauf hinweisen? Ja, gerade weil die Besatzung samt dem einhergehenden Siedlungsbau eine Art Dauerzustand geworden ist. Weshalb Israel dabei ist, mehr und mehr in einen binationalen Staat mit ungleichen Rechten abzugleiten.

Schon heute beträgt das demografische Verhältnis von jüdischen zu arabischen Bewohner:innen zwischen Mittelmeer und Jordanufer in etwa „fifty-fifty“. Auch wenn man das in Deutschland nicht Apartheid nennen mag: einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung zu kontrollieren, ohne ihr ein Mitbestimmungsrecht einzuräumen, ist mit einer Vorzeigedemokratie, als die sich Israel gerne präsentiert, unvereinbar.

Bleibt der Trost, dass jede Krise eine Chance birgt, so sehr das nach Platitude klingt. Der Machthunger der Nationalrechten hat sich als Weckruf für die Mitte der Gesellschaft erwiesen, die für ihr geliebtes Israel auf die Barrikaden gegangen ist.

Erstmals seit langem, genauer seit dem Gaza-Abzug 2005, haben sie den nationalreligiösen Verfechtern, einen Dämpfer verpasst. Ob er nachhaltig ist, muss sich zeigen. Aber die starren Verhältnisse sind in Bewegung geraten, die Ultrarechten an ihre Grenzen gestoßen.

Da ist ein Glückwunsch zu Israels 75. Geburtstag angebracht, verbunden mit der kühnen Hoffnung, den elenden Nahostkonflikt bis spätestens zum Hundertsten ad acta gelegt zu haben.

Inge Günther ist Autorin.

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