Vom Wert der Sauklaue

Wer die Schreibschrift aus der Schule verbannt, trägt zum Verschwinden einer nützlichen Kulturtechnik bei. Sie ist durch die Digitalisierung ohnehin schon stark bedroht.
Um die Buchstaben muss man sich keine Sorgen machen. Sie werden gebraucht, mehr als jemals zuvor. Es wird getippt und gehackt, gewischt und geschrieben. Die digitale Revolution ist auf gefräßige Art und Weise dabei, sich die Bilder einzuverleiben, aber sie kann auf die Schrift nicht verzichten. Der Austausch der Zeichen vollzieht sich nach Gebot des Mediums schnell. Für den Fall der Zustimmung sagen wir „yip“ und für den Fall der Ablehnung „nö“.
Die umständliche Reform der öffentlichen Rechtschreibung vor einigen Jahren hat zahlreiche neue Regeln formuliert und alte Übereinkünfte aufgehoben. Am Ende aber hat diese Rechtschreibreform vor allem bewirkt, dass jeder machen kann, was er will. In der digitalen Kommunikation wird klein geschrieben, abgekürzt und je nach Bedürfnislage neu montiert. Sprache ist, was irgendwie seinen Adressaten erreicht.
Und doch wird manchmal noch über die Zukunft der Sprache und die Tradition ihrer schriftlichen Niederlegung gestritten. Was aus der Schreibschrift werden soll und wie sie an Schulen vermittelt wird, beschäftigt seit einiger Zeit nicht nur die Amtsstuben der Kultusministerien in den Bundesländern. „Schluss mit dem Schriften-Wirrwarr“, fordert eine 2010 gestartete Kampagne des deutschen Grundschulverbandes, deren Ziel darin besteht, die Uneinheitlichkeit der an deutschen Primarschulen gelehrten Schreibschriftarten aufzuheben.
Im Kern geht es dabei um eine Abkehr von der sogenannten Ausgangsschrift mit ihren verbundenen Buchstaben, die an deutschen Schulen in drei Varianten unterrichtet wird. Geschrieben werden soll an den Schulen auch weiterhin. Vereinfachung und Zeitgewinn aber erhofft man sich durch die einheitliche Etablierung einer unverbundenen, per Hand ausgeführten Druckschrift, gewissermaßen als Konzession an die Welt der Tastaturen, die zum Vorschein kommt, sobald man nur sein mobiles Endgerät in die entsprechende Position gebracht hat.
Moderne Medienkompetenz und die Bewahrung einer uralten Kulturtechnik geraten so bereits an der Grundschule in einen kaum mehr aufzulösenden Widerspruch. Die konservative Position ist klar und hat gute Argumente der Neurowissenschaften auf ihrer Seite: Die schwungvolle Bewegung der Hand hilft auch unserem Gehirn beim Lernen und Speichern des Wissens.
Schreiben erscheint als antiquierte Kulturtechnik
Wie ein Muskel, so der Psychologe Manfred Spitzer, werde auch das Gehirn nur dann trainiert, wenn man es wirklich fordere. Die Erfahrung der Welt ist gattungsgeschichtlich stark an das Begreifen durch die Hände im Wortsinn und die Wahrnehmung durch die Sinne gebunden. Mit der Loslösung von der Handschrift greifen wir demnach auch in die Lernprozesse unseres Gehirns ein.
Wenn nach der Zukunft der Schreibschrift gefragt wird, wie es unlängst die 3sat-Sendung Kulturzeit auf ihrer Internetseite 3sat.de getan hat, spricht sich eine große Mehrheit für den Erhalt der verbundenen Schreibschrift aus. Wie wichtig das Schreiben per Hand sein kann, ahnt jeder, der schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass er zwar seine Sauklaue nicht mehr zu entziffern vermag, aber doch noch irgendwie weiß, was er einst so dahingekritzelt hat. Wir bilden uns mehr durch das Schreiben als durch den Screenshot, also das bloße Kopieren mittels unserer kleinen digitalen Helfer.
Der transmediale Alltag aber sieht anders aus. Schreiben erscheint als antiquierte Kulturtechnik, und selbst die aufs Sorgsamste manikürte Hand erinnert auf der glatten Oberfläche unserer Datenmaschinen doch wieder nur an ungelenke Wurstfinger. Vor der Perfektion der Geräte schämen wir uns für unsere bemitleidenswerte Körperlichkeit.
Zu welcher Entscheidung die umtriebigen Reformer in den Kultusministerien auch kommen mögen: Das allmähliche Verschwinden der Handschrift aus unseren Erkenntnis- und Memotechniken werden sie nicht aufhalten können. Im Sog des totalen Digitalismus stellt die Schule nur noch eine lästige Unterbrechung mit pädagogischen Altlasten dar. Ihr Reformeifer ist so nur die Kompensation einer offensichtlichen Hilflosigkeit.
Wer doch noch einmal seine Stimme erhebt, macht sich verdächtig, im belächelten Jargon der Kulturkritik auf die Bewahrung der kognitiven Ressourcen zu pochen. So führt nun einmal kein Weg in die digitale Bohème.
Eher schon können einfallsreiche Spielarten hilfreich sein, denen es gelingen mag, der Handschrift einen Wiedereintritt in die digitale Welt zu ermöglichen. Ganz ähnlich, wie es François Truffaut in seinem Film „Fahrenheit 451“ nach einem Science-Fiction-Roman von Ray Bradbury als düstere Vision auf die Leinwand gebracht hat. Um sich gegen die Ausrottung der geistigen Welt durch eine Bücherverbrennung zu wappnen, lernen die Kinder am Ende des Films die großen Werke der Weltliteratur kurzerhand auswendig.