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Transatlantische Beziehungen
Nach Sturm aufs Kapitol: Die Statik des Westens ist dahin
- vonTobias Endlerschließen
Um sie zu stützen und zu bewahren, muss Europa die Spielregeln im Umgang mit den USA künftig neu schreiben. Ein Gastbeitrag.
- Die Beziehungen zwischen Europa und den USA werden sich nach Donald Trumps Präsidentschaft verändern.
- Europa wird sich künftig unabhängiger von den USA machen müssen.
- Trump News: Alle Informationen rund um den scheidenden US-Präsidenten.
Washington – Der Westen ist an ein Ende gekommen. Trumps Niederlage ändert daran nichts. Im Gegenteil: Die chaotischen Szenen auf den Stufen des Kapitols, die Vandalen im Sitzungssaal des Senats, dem Herzen der US-Demokratie, lassen auch für uns in Deutschland nur einen Schluss zu: Etwas Grundsätzliches steht auf dem Spiel, etwas, das weit über die Biden-Jahre hinausreicht. Um dies zu erfassen, müssen wir uns klarmachen, welche tektonischen Verschiebungen dem „Westen“, wie wir ihn zu kennen glaubten, den Boden entzogen haben.
Die Grundfesten des Westens, auf denen seine Säulen stehen, sind von innen ausgehöhlt: Greller denn je war vorgestern in Washington zu sehen, welche Spuren der mit größtmöglicher Härte geführte Wahlkampf hinterlassen hat. Der öffentliche Meinungsbildungsprozess hat in seiner Polarisierung bizarre Züge angenommen und schlägt nun in offene Gewalt um. Marode politische Institutionen stehen für ein System, das aus der Zeit gefallen ist und in seiner Ineffizienz und Intransparenz bei vielen Misstrauen schürt. Zerschlagene Fensterscheiben im Kapitol können innerhalb von Stunden ersetzt werden, doch die Erschütterung am Grundgerüst der Demokratie wird Jahre brauchen, um abzuklingen. Die Vereinigten Staaten sind bis auf Weiteres mit sich selbst beschäftigt.
Ob Trump oder Biden: Das Verhältnis von Europa und den USA wandelt sich
Auch deshalb haben sich die USA schon im Verlauf der letzten 15 Jahre von ihrer Rolle als eine der tragenden Säulen des Westens verabschiedet. Damit ist die Statik dahin, zunächst unabhängig davon, ob die andere tragende Säule, Europa, das „Dach“ des Westens weiterhin stützt. Dies allerdings ist laut einer Pew-Research-Umfrage vom Herbst 2020 längst nicht mehr der Fall; nur ein Viertel der Deutschen hat ein positives Amerikabild.
Vielen erscheint die US-amerikanische Entscheidung dennoch als Affront, dabei ist sie durch globale Überlegungen motiviert. Das neue außenpolitische Portfolio ist auf Asien, und vor allem China, ausgerichtet. Schon immer versteht sich die Supermacht USA als weltweit agierende Macht. Das heißt: Man steht in der Tradition des Westens, fühlt sich jedoch im eigenen Aktionsradius nicht an den Westen gebunden. Schließlich droht der Kommunikationsfaden über dem Atlantik abzureißen. Deutschland, das lange an den wirtschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Entwicklungen in den USA teilgenommen und davon gelernt hat, bleibt nun außen vor.
Tobias Endler ist Amerikanist und Politologe. Soeben erschienen: Game Over – Warum es den Westen nicht mehr gibt (Orell Füssli; 20 Euro).
Nach der Ära Trump: Das alte Spiel zwischen Europa und den USA ist dahin
Teslas neue Megafabrik in Brandenburg zeigt genau das: Statt technisches Know-how auszutauschen und sich im Wettbewerb gegenseitig zu inspirieren, kauft sich Deutschland ein US-amerikanisches Komplettpaket ein – ohne deshalb etwas Eigenes daraus aufbauen zu können. Außenpolitisch, darauf können wir setzen, wird die neue US-Regierung der EU und vor allem Berlin und Paris wieder die Hand reichen. Aber sie wird an dieser Hand auch kräftig ziehen. Diese Form des fordernden Einbezugs ist nicht mit Abstimmung zu verwechseln. Biden wählt eine sanftere Tonlage, in der Sache wird er etwa mit Bezug auf die Nato oder Nord Stream II härter sein als sein Vorgänger.
Das alte Spiel des Westens ist vorbei. Die USA und Europa sind hiervon beide betroffen, aber nicht in der gleichen Art und Weise. Die USA brauchen den Westen nicht, wir Europäer hingegen schon, wirtschaftlich, militärisch, für unser Selbstverständnis. Während man sich auf der anderen Seite des Atlantiks neu sortiert und anderswo längst Dritte bereitstehen, das entstehende weltweite Vakuum zu füllen, sollten wir hierzulande nicht länger warten.
Die Ringvorlesung unseres WissenschaftsCampus zu den transatlantischen Beziehungen geht weiter. Mo., 11.1., 18.15 Uhr, mit Klaus Buchenau (Regensburg): „Ex occidente lux(us). Religiöse Impulse aus den USA im östlichen Europa des 19. und 20. Jh.“.
— Leibniz-Institut für Ost- & Südosteuropaforschung (@LeibnizIOS) January 8, 2021
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Emanzipationsbestrebungen: Europa muss sich unabhängiger von den USA machen
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die lange gemeinsame Geschichte des Westens mit all ihren Errungenschaften hat unbedingt ihre Berechtigung. Es geht nicht darum, einen „Gegen-Westen“ zu proklamieren (was schon geografisch keinen Sinn ergäbe). Sondern um die logische Fortsetzung und Weiterentwicklung des Bestehenden, mit klarem Blick für die Erfordernisse unserer Zeit. Es gilt, sich nicht unter Wert zu verkaufen, ein vermeidbarer Fehler, der uns Europäer nicht zuletzt Selbstachtung und damit den Glauben an die eigene Gestaltungskraft kostet. In diesem Sinne ist die Feststellung „Game Over für den Westen“ als Bestandsaufnahme zu verstehen bezüglich der US-amerikanischen Prioritäten in der Globalpolitik.
Diese wird ein Präsident Biden diplomatischer formulieren, doch ebenso entschieden durchsetzen. „Game Over“ ist auch ein Weckruf: Die destruktive Ära Trump zwingt uns zu einem illusionslosen Blick auf die Dinge. Europäer sollten diese Klarheit dazu nutzen, ohne falsche Erwartungen eigenes Handeln zu entwickeln. „Game Over“ ist eine Ermutigung, das Ende des alten Spiels für den Westen als Chance auf ein neues Spiel zu begreifen – ein Spiel, das wir in „autonomer Verbundenheit“ mit den USA selbst beginnen sollten. Freilich schreiben sich die Spielregeln nicht von selbst. Europa aber, und in der Mitte Europas die deutsch-französische Allianz, bringt alle Voraussetzungen mit – zu gestalten, zu spielen, zu gewinnen. Angesichts der Ereignisse dieser Woche sollten wir nicht länger abwarten. (Tobias Endler)