Vision für die Schule

Es braucht Zeit für das Wesentliche – um Jugendliche mündig zu machen und Lehrkräfte zufriedener, schreibt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Nina Stahr.
In den Berliner Schulen fällt am heutigen Dienstag Unterricht aus – die GEW hat zum Warnstreik aufgerufen. Ziel: kleinere Klassen, Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen. Sie trifft damit einen Punkt: Die Krankenstände der Berliner Lehrkräfte sind so hoch wie nie – mit fatalen Folgen für den Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen. Unterricht fällt aber nicht nur wegen kranker Lehrkräfte aus, sondern auch, weil es insgesamt zu wenige gibt.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat deshalb Maßnahmen vorgelegt, um den Lehrkräftemangel zu beheben. Teilzeit streichen, mehr Unterrichtsstunden pro Lehrkraft und größere Klassen. Kein Wunder, dass Lehrerverbände dagegen Sturm laufen. Die Folge ist absehbar: Lehrkräfte würden häufiger krank oder den Beruf ganz verlassen.
Weitere Vorschläge der SWK wie multiprofessionelle Teams, Entlastung von Verwaltungsaufgaben und schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse sind nicht neu und werden von der Ampel-Koalition zum Beispiel mit dem Startchancenprogramm und der ressortübergreifenden Fachkräftestrategie schon auf den Weg gebracht, und auch die Länder arbeiten daran. Doch all das reicht nicht.
Die SWK hat die Chance verpasst, neue Ideen zu erarbeiten – weil sie die entscheidende Frage nicht stellt: was den Lehrerberuf eigentlich attraktiv macht. Der Schlüssel zu mehr Lehrkräften sind Arbeitsbedingungen, die das, was den Beruf ausmacht, wieder erlebbar machen. Die Beziehungsarbeit ermöglichen und Momente schaffen, in denen man als Lehrkraft weiß: „Jetzt habe ich diesem Schüler ein entscheidendes Stück im Leben weitergeholfen“. Dafür braucht es Zeit. Also: kleinere Klassen, weniger Korrekturen und weniger Unterrichtsverpflichtung.
Nun wird jeder Kultusminister den Kopf schütteln und sagen: Wie soll das mit diesem Lehrermangel funktionieren? Doch wir müssen gerade jetzt eine Zielvorstellung entwickeln, wie Schule in Zukunft aussehen soll, um überhaupt noch Menschen für diesen Job begeistern zu können. Nur mit einem solchen Ziel vor Augen können wir jetzt die richtigen Schritte gehen.
Dafür braucht es einen Stufenplan, und natürlich müssen von Aus- und Weiterbildung über Quereinstieg bis hin zu multiprofessionellen Teams alle Register gezogen werden. Wir müssen gleichzeitig früher ansetzen und dafür sorgen, dass alle Kinder bei der Einschulung in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen – etwa mit konsequenten Sprachstandserhebungen.
Aber wir müssen jetzt auch die Chance nutzen, uns zu fragen, was Schule heute eigentlich leisten muss. Seit den Preußischen Reformen hat sich an der Grundstruktur nicht viel geändert; es wird in Fächern unterrichtet, das Gelernte überprüft und mit einer Note versehen. Dabei müssen junge Menschen heute ganz andere Kompetenzen erlernen als vor 200 oder vor 50 Jahren. Spätestens seit ChatGPT ist klar, dass sie heute nicht mehr einfach nur Wissen vermittelt bekommen müssen – sondern die Kompetenzen, um sich sicher in dieser digitalisierten Welt zu bewegen. Wir brauchen grundlegend neue Strukturen in der Schule – auch damit wird sie wieder zum attraktiven Arbeitsort.
Ein Blick ins Schulgesetz lenkt den Blick aufs Wesentliche: Schule soll Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürger:innen erziehen. Dafür braucht es gewisse Grundfertigkeiten – lesen, schreiben, rechnen. Und natürlich ist Schule der Ort, wo kulturelle Teilhabe und Zugang zu Sport ermöglicht wird. All das stelle ich nicht in Frage. Doch wir müssen die Lehrpläne entschlacken, um ausreichend Zeit fürs Wesentliche zu haben. Dafür müssen wir viel vernetzter denken – nicht nur fächerübergreifend, sondern womöglich ganz ohne Schulfächer. Es braucht viel mehr ehrliches Lernfeedback statt ständige Klassenarbeiten und Notendruck und viel mehr echte Mitbestimmung der Schüler:innen, damit sie sich auch später zur demokratischen Grundordnung bekennen. In einer solchen Schule hätten Lehrkräfte eine andere Rolle als heute – doch es wäre viel mehr die Rolle, wegen der viele sich für diesen Beruf entschieden haben.
All das klingt wie eine Vision aus einer anderen Welt, völlig unmöglich. Und doch müssen wir genau jetzt darüber reden. Die Bundesbildungsministerin und die Kultusminister:innen müssen sich gemeinsam dieser Aufgabe stellen. Nur so können wir die Weichen stellen, um in zehn Jahren besser dazustehen. Kurzfristig werden wir mit Notlösungen arbeiten müssen – doch diese dürfen nicht zum Dauerzustand werden und den Blick auf die wesentlichen Fragen der Schulqualität verhindern. Sonst wird die GEW bald nicht mehr streiken – weil dann keiner mehr zum Streiken da ist.
Nina Stahr ist ausgebildete Lehrerin. Sie sitzt für die Grünen im Bundestag. Dort ist sie bildungs- und forschungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion.