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Die Vernunft kapituliert

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Von: Friedrich Ostendorff

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Massentierhaltung ist weder für Tiere und Umwelt noch für die Landwirte auf Dauer zu ertragen. Aber die Bundesregierung tut so gut wie nichts.

Nirgendwo versagt wohl der Staat in seiner Rolle als Gestalter, Bewahrer und Förderer des Gemeinwohls so dramatisch wie in der Agrarpolitik. In einem so existenziellen Bereich, der einerseits die Mittel zum Leben hervorbringt, andererseits dafür in höchstem Maße Gemeingüter beansprucht, liegen der gesellschaftliche Konsens sowie die wissenschaftlich fundierten Handlungsnotwendigkeiten einerseits und die Realität andererseits meilenweit auseinander. 

Um eine zukunftsfähige, nachhaltige Landwirtschaftspolitik zu betreiben, müssen drei ganz unterschiedliche Gruppen in den Blick genommen und berücksichtigt werden; haben doch Bäuerinnen und Bauern, Tiere und die Gesellschaft zum Teil diametral abweichende Interessen.

Ministerin Klöckner sitzt also zwischen drei Stühlen – die Herausforderung gleicht einem Tripelmandat. Die Bundesregierung muss nichts Geringeres als wirkungsmächtige Kompromisse erreichen. Dass das einfach ist, sagt niemand. Aber es ist notwendig.

Analysiert man die Fakten rund um das Teilsystem der industriellen Tierhaltung und deren Auswirkungen, kommt man aus diesen drei unterschiedlichen Perspektiven zu dem Ergebnis: So kann es nicht weitergehen, die Grenzen sind erreicht. 

Wer es für eine gute Idee hält, die aktuelle Intensität der Fleischproduktion mit all ihren verheerenden Auswirkungen für Menschen, Tiere und Umwelt weiter zu betreiben, irrt. Nachzulesen ist diese Einsicht in nahezu jeder Publikation, die nicht dem Sprachrohr der Agrarindustrie, sprich: dem Deutschen Bauernverband, entspringt. 

Wie aber stellt sich das Tripelmandat in der industriellen Tierhaltung dar?

Da sind einerseits die Tiere. Sie werden ihrer arteigenen Verhaltensweisen beraubt. Schweine werden auf perforierten Betonböden gehalten, 0,75 Quadratmeter für ein 100 Kilogramm schweres Schwein. Hühnchen werden in der Turbomast in 35 Tagen zur Schlachtreife gebracht, männliche Küken mangels Eierlegevermögens direkt nach dem Schlüpfen getötet. Die meisten Nutztiere fristen ein unwürdiges, entwertetes Leben, zumeist unter dem Radar der Öffentlichkeit.

Gleichzeitig werden die Interessen der Tierhalter*innen gleichfalls unterlaufen: Weltmarktpreise lassen kaum ein angemessenes Einkommen zu, der Kostendruck ist enorm, die Spirale aus Effizienz, Intensivierung und Wachstumszwang dreht sich schneller und schneller. Das Unverständnis der Gesellschaft trifft persönlich – die Wagenburg wird enger gezogen. Die Klimakrise wird ihr Übriges tun, um die Situation von Bäuerinnen und Bauern zu destabilisieren.

Der dritte Punkt bezieht sich auf die Ansprüche der Gesellschaft zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Tierhaltung hat enorme Auswirkungen auf unser Ökosystem. Gülle im Wasser, Ammoniak in der Luft, zu viele Nährstoffe im Boden, Flächenverbrauch für Futter statt Brotgetreide für Menschen. 

Die Lebensgrundlagen aller werden stark angegriffen. Sowohl regional bei uns in Deutschland als auch global haben die Auswirkungen des Fleischeshungers der Menschen solch aberwitzige Dimensionen angenommen, dass ein weiteres Befeuern der Tierproduktion, wie von Ministerin Klöckner gefordert, fast schizophren erscheint.

Zu lange haben allein die wirtschaftlichen Interessen der Agrarindustrie die Politik gestaltend beeinflusst. In den letzten Jahren, wurden, einem starken gesellschaftlichen Votum zum Trotz, keine wirklich ambitionierten Vorhaben umgesetzt. 

Aktuell liegt das Gesetz zu einem Tierwohlkennzeichen auf dem Tisch. Einem 100 Kilo schweren Schwein soll statt 0,75 Quadratmetern eine Betonfläche von 0,85 Quadratmetern zugestanden werden. Und selbst diese Forderungen werden von der Schweinemästerlobby mit Schaum vor dem Mund bekämpft und als nicht finanzierbar abgelehnt.

Minimalveränderungen sollen als Erfolg verkauft werden, obwohl mit diesem schwachen Vorstoß keinem der drei Kernpunkte des Tripelmandats entsprochen wird. Aus Sicht der Tiere ist dieser Vorschlag absolut unzureichend. 

Auch darüber, wie der Mehraufwand für die Tierhalter*innen generiert werden soll, gibt es nichts Handfestes. Und dass diese Peanuts keine grundsätzlichen Verbesserungen der desaströsen ökologischen Zerwürfnisse sind, die die Intensivtierhaltung mit sich bringt, ist ebenfalls klar. Vielmehr werden das Unvermögen der politischen Entscheidungsträger und die Missachtung jeglicher Notwendigkeit, Veränderungen mit Weitsicht anzugehen, zementiert. 

Dabei ist ein Systemwechsel unabdingbar. Das Dramatische ist, dass wir langsam den Zeitpunkt überschreiten, von dem die zukünftigen Generationen sagen werden: Da hätten wir noch umsteuern können. 

Dieses Wissen, gepaart mit einem „Weiter so“ an die Vollgas-Agrarindustrie, ist eine Kapitulation der Vernunft. 

Friedrich Ostendorff ist Sprecher für Agrarpolitik der Grünen im Bundestag und seit 50 Jahren Bauer.

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