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Vereint nach vorn

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Von: Matthias Koch

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Soeben sagten 72 Prozent der Ostdeutschen Forsa, dass nach ihrer Ansicht auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer „das Trennende überwiegt“.  © Paul Zinken/dpa-Zentralbild/dpa

Deutschland muss sich am 30. Jahrestag der Einheit mehr einfallen lassen als einen Blick in den Rückspiegel. Der Leitartikel.

Seufzend über eine noch immer existierende Mauer in den Köpfen zu reden, ist ein beliebtes Ritual in Deutschland – besonders an Gedenktagen. Alle Jahre wieder kramen viele das Thema hervor, mit simulierter Achtsamkeit, wie einen alten Strohstern im Advent.

Soeben sagten 72 Prozent der Ostdeutschen Forsa, dass nach ihrer Ansicht auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer „das Trennende überwiegt“. Bei den Westdeutschen sind es traditionell nicht ganz so viele, nur 44 Prozent.

Müssten Land und Leute sich nicht einfach mal einen Ruck geben und sich abfinden mit gewissen Unterschieden und Eigenheiten? Auch wer Norddeutschland und Süddeutschland vergleicht, vom Pro-Kopf-Einkommen über den Lebensstil bis zu generellen Befindlichkeiten, wird auf viel Trennendes stoßen.

In Wahrheit ging es doch auch nie um die eine oder andere faktische Abweichung als solche. Das entscheidende Problem im Verhältnis zwischen Ost und West lag stets woanders: in Verletzungen von Würde durch fehlende Anerkennung, darin, dass anfangs Westdeutsche den Eindruck erweckten, sie hielten sich selbst für etwas Besseres und betrachteten Ostdeutschland als eine Zone, um die man besser einen Bogen macht.

Genau an diesen Stellen aber ist, auch wenn es hier und da tatsächlich jahrzehntelang gedauert hat, am Ende eben doch mühsam zusammengewachsen, was zusammengehört. Überlegenheitsgefühle im Westen haben mittlerweile ebenso nachgelassen wie Minderwertigkeitskomplexe im Osten. Die alten Generalisierungen passen nicht mehr zu den neuen Realitäten. Inzwischen sind schon die Kinder der Nachwendekinder unterwegs – und wollen, egal wo sie geboren sind, heute lieber in Leipzig leben als in Lüdenscheid.

Es gibt jetzt ein neues Deutschland, auch in emotionaler Hinsicht. Und dieses Land muss sich am 30. Jahrestag der Einheit mehr einfallen lassen als einen Blick in den Rückspiegel. Wer die aktuellen Probleme sortiert, wird den Punkt „Integration von Ost- und Westdeutschland“ kaum an Platz eins setzen.

Mit Macht schiebt sich die Corona-Krise nach vorn, mit allen noch möglichen ökonomischen und sozialen Folgewirkungen. Hinzu kommt eine ungewöhnliche Verfinsterung der internationalen Szenerie. Die Kanzlerin spricht von einer aggressiven Welt, durch die man sich derzeit bewege.

In solchen Zeiten, klarer Fall, muss man zusammenstehen. Das gilt für Deutschland, aber auch für die Europäische Union. Oft hilft sogar, wie sich auf beiden Ebenen zeigt, wachsender äußerer Druck. Quer durch die EU lässt derzeit die Neigung nach, dem Beispiel der Briten zu folgen und das Heil im nationalen Alleingang zu suchen.

Zugleich ist innerhalb Deutschlands das Vertrauen in die Regierung und in die Parteien der Mitte gewachsen. Gewachsen ist allerdings auch die Last der Aufgaben, die die politische Führung in Berlin in nächster Zeit zu schultern hat.

Deutsche Einheit: Dieses Ziel muss mit Blick auf die nächsten 30 Jahre neu definiert werden. Es könnte dann einen neuen Klang bekommen. Deutschland braucht nicht nur ein neues Wir-Gefühl von Ost- und Westdeutschen, sondern auch von Einheimischen und Zuwanderern.

Schaffen wir es, auch in Zukunft einen regelbasierten Zusammenhalt zu organisieren? Oder zerfällt unsere Gesellschaft wie die der USA nach und nach in Gruppen und Grüppchen, die am Ende nur noch ihren Hass kultivieren?

Immerhin haben wir inzwischen einiges gelernt auf der Rüttelstrecke der letzten 30 Jahre. Die Starken wissen jetzt, dass man Fragen der Würde und des Respekts nicht unterschätzen darf.

Die Schwachen wissen jetzt, dass allein ein auf die Identität und Vorgeschichte gestütztes Klagelied nicht weiterhilft. Nur ökonomische Dynamik schafft jenen Zug im Kamin, den man braucht, um am Ende Geschichten von Erfolg und Aufstieg erzählen zu können.

Die Deutschen eint jetzt immerhin eine zentrale Erfahrung: Gutwillige Menschen, die ein gemeinsames Wohin beschreiben, können zusammen erstaunlich viel bewegen – auch wenn sie anfangs getrennt erscheinen durch ein unterschiedliches Woher.

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