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Ukraine-Debatte: Über Wege zum Frieden nachzudenken, ist keine Kapitulation vor Putin

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Von: Stephan Hebel

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Wie das Leiden beenden? Ein Schild warnt vor Minen am Straßenrand des Dorfes Kamjanka bei Isjum. Vadim Ghirda/AP/dpa
Wie das Leiden beenden? Ein Schild warnt vor Minen am Straßenrand des Dorfes Kamjanka bei Isjum. © Vadim Ghirda/AP/dpa

Wer über mögliche Schritte zum Frieden nachdenkt, kapituliert damit nicht automatisch vor Putin. Doch die Überlegungen müssen moralisch und politisch glaubwürdig sein.

Vor zwei Wochen habe ich mich an dieser Stelle mit der Diskussion über die diversen Appelle und Manifeste zum Ukraine-Krieg befasst. Die Redaktion hatte den treffenden Titel „Polarisieren hilft nicht“ gewählt, und das „Polarisieren“ hatte ich auf beiden Seiten des Spektrums beklagt: bei Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die aus meiner Sicht die Kriegsschuld des Putin-Regimes bei weitem nicht klar genug benennen; aber auch bei denjenigen, die fast jede Überlegung zu einer möglichen Verhandlungslösung unter den Verdacht der Verharmlosung von Putins völkerrechtswidrigem Angriff stellen – sogar so differenzierte Beiträge wie denjenigen von Jürgen Habermas, mit dem ich mich in dem Beitrag ebenfalls befasste.

Ich fühle mich nun durch einige Zuschriften angeregt, es nicht bei dem Appell zu einer wertschätzenden und abwägenden Debatte zu belassen. Vor allem bei FR-Leser Diedrich Machts bedanke ich mich, der sich in sachlich-nachdenklichem Ton mit dem Thema auseinandergesetzt und eine Bitte hinzugefügt hat: „Ich hätte mir in Ihrem Text … vielleicht etwas mehr eigene Positionierung – über den so wichtigen Appell für eine mehr wertschätzende Debatte hinaus – gewünscht.“

Ich möchte also im Folgenden ein paar Kriterien zu skizzieren versuchen, mit denen sich zwei gleichermaßen ehrenhafte Ziele womöglich zusammendenken lassen: die Verteidigung der ukrainischen Souveränität gegen den verbrecherischen Aggressionskrieg und die Suche nach Wegen zu einem verhandelten Ende der Gewalt. Ich tue das in sieben Punkten.

Putin trägt die Verantwortung für jeden Toten im Ukraine-Krieg

1. Diesen Krieg hat niemand anderes begonnen als Wladimir Putin. Er trägt die Verantwortung für jeden Toten, jede Verletzte, jede Vergewaltigung und Demütigung, jede Zerstörung, die auf den 24. Februar 2022 folgte und folgt. Er trägt auch die Verantwortung für das Leid der Menschen im globalen Süden, die teils bis zum Tode hungern, weil der Krieg den Anbau und Export ukrainischen Getreides auch jetzt noch behindert.

Ich halte daran fest, dass diese Aussage am Anfang jeder ernstzunehmenden Auseinandersetzung stehen muss. Das gilt gerade dann, wenn in die Analyse auch Fehler anderer Akteure, vor allem der Nato, einbezogen werden. Kritik am Westen ist auch in der aktuellen Situation legitim. Aber sie ist es nur dann, wenn unmissverständlich bleibt, dass an Putins Schuld nichts, aber auch gar nichts zu relativieren ist. Der Mann gehört irgendwann vor ein Gericht – dieser Meinung kann sich auch anschließen, wer ein anderes Ende des Krieges nicht ausschließen möchte als eine totale Kapitulation Russlands.

2. Wer Verhandlungen fordert, sollte das Gegenargument ernst nehmen, dass es für eine Kompromissbereitschaft des Putin-Regimes in der Frage nach der Zukunft der Ukraine bisher keine Anzeichen gibt, jedenfalls keine, die für die Öffentlichkeit erkennbar wären. Das zuzugeben, muss keineswegs bedeuten, auf den Ruf nach stärkeren diplomatischen Bemühungen (womöglich unter Beteiligung von Ländern wie Brasilien oder auch China) zu verzichten. Ich halte die Stimmen für besonders glaubwürdig, die Putins fehlende Bereitschaft eingestehen, aber auf dem Versuch beharren, vorhandene Kontakte zu nutzen und sich auf Basis der schon erreichten Übereinkünfte (Getreidelieferungen, Gefangenenaustausch) Schritt für Schritt um eine Erweiterung diplomatischer Spielräume zu bemühen.

Putins Krieg gegen die Ukraine verlangt eine schmerzhafte Abwägung ab

3. Moralische Monopolansprüche, egal von welcher Seite, sind unangebracht und der Meinungsbildung nicht förderlich. Putins Krieg verlangt allen, die ihn nicht zynisch betrachten, eine schmerzhafte Abwägung ab, in wenigen Worten: Nicht ob ich Opfer gedanklich in Kauf nehme, ist die Frage, sondern welche Opfer ich für notwendig halte. Was ich damit meine? Wer eine Fortsetzung des Widerstands bis zu einer entscheidenden Schwächung der russischen Angriffskraft fordert, gibt der Verteidigung des ukrainischen Rechts auf Souveränität und der Vorbeugung gegen weitere imperialistische Ambitionen Moskaus Vorrang. Das ist nicht per se unmoralisch, trotz der furchtbaren Erkenntnis, dass es noch mehr Menschenleben kosten wird. Gerade Deutsche sollten das wissen: Für unsere Befreiung von einem brutalen und eroberungshungrigen Regime haben viele andere (nicht zuletzt aus Russland und der Ukraine) unendlich gelitten.

Aber auch umgekehrt gehen die moralisch aufgeladenen Vorwürfe oft ins Leere – jedenfalls wenn sie sich gegen diejenigen richten, die diplomatische Wege suchen, ohne das Verteidigungsrecht der Ukraine infrage zu stellen. Wer das tut, wägt anders ab und sagt: Der Blutzoll des Krieges ist so hoch, dass er den Preis für einen möglichen Waffenstillstand rechtfertigt, also die diktatorische Macht des Putin-Regimes über völkerrechtswidrig eroberte Gebiete vorerst duldet. Auch das wäre außerordentlich schmerzhaft, aber per se unmoralisch ist es ebenfalls nicht – jedenfalls nicht, wenn das Fernziel einer Wiedererlangung der ukrainischen Souveränität aufrecht erhalten bleibt. Ein Waffenstillstand, der nicht sofort alle russischen Besetzungen aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022 rückgängig macht, müsste dazu nicht im Widerspruch stehen: Denkbar wäre es, wie vielfach zu lesen, den Status der Krim und mögliche Formen von Autonomie in einem ukrainischen Donbass zunächst offenzuhalten und dazu international überwachte Volksentscheide anzustreben.

Es ist hilfreich, sich und anderen wenigstens über die eigenen Ziele Rechenschaft abzulegen

4. Aus all dem kann meines Erachtens nur eine Politik folgen, die Waffenlieferungen nicht ausschließt, sie aber in jedem Einzelfall im Licht der aktuellen Lage penibel auf Notwendigkeit, Angemessenheit und das Risiko einer vermeidbaren Eskalation hin überprüft. Ebenso penibel sind diplomatische Vorstöße daran zu messen, ob sie die Gewalt eindämmen oder am Ende zur Vergrößerung des Leidens beitragen, indem zum Beispiel der Verzicht auf bestimmte Waffenlieferungen die legitime Verteidigung der Ukraine erschwert. Beides ist natürlich mit Prognosen verbunden, deren Eintreten niemand garantieren kann. Beiden Varianten haftet das Risiko an, das Leiden zu verlängern und sich damit schuldig zu machen, und es ist so sinnlos wie nervend, dieses Risiko immer nur den anderen anzulasten.

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Das war es im Kern, was ich mit „Polarisieren hilft nicht“ meinte: Es ist zutiefst unpolitisch, mit moralischem Überschwang nach dem Schweigen der Waffen zu rufen, ohne auch nur darüber nachzudenken, wie ein Wladimir Putin zum Verhandeln gebracht werden könnte. Ebenso unpolitisch ist es, die zwar moralisch und rechtlich absolut berechtigte Forderung nach Souveränität für die ganze Ukraine zu erheben, ohne sich aber auf Überlegungen zu diplomatischen Zwischenschritten auch nur einzulassen. Wer verhandeln will, fordert faktisch die Kapitulation der Ukraine: Diese Gleichung ist nun wirklich zu simpel. Ich kann mir eine produktive Debatte und Fortschritte auf dem beschwerlichen Weg hinaus aus diesem Krieg nur vorstellen, wenn wir es aushalten, beide Ansätze miteinander zu verbinden.

5. Wer die richtige Mischung aus militärischer Verteidigung und Diplomatie finden will, sollte sich und anderen wenigstens über die eigenen Ziele Rechenschaft ablegen. Geht es darum, Russland militärisch und ökonomisch so zu schwächen, dass es nie wieder imperialistische Ziele verfolgen kann? Ist das mit dem Kalkül verbunden, dass das Putin-Regime stürzt und – wofür leider momentan nichts spricht – durch eine demokratische Regierung abgelöst wird? Dient die Unterstützung mit Waffen und Geld dem Ziel, so lange zu kämpfen, bis die Hoheit der ukrainischen Regierung über ihr Staatsgebiet inklusive Donbass und Krim auf militärischem Weg wiederhergestellt ist und von Moskau nicht mehr bedroht werden kann? Oder dient sie dem Ziel, Putin militärisch und ökonomisch „nur“ so zu schwächen, dass er über eine souveräne Ukraine verhandeln muss? Ich halte eine westliche Politik für nicht besonders glaubwürdig, die diese Fragen – wahrscheinlich aus innerer Uneinigkeit – nicht beantwortet.

Ebenso legitim kann es sein, auf frühere Völkerrechtsverletzungen etwa durch die USA zu verweisen

6. Mit Recht wird immer wieder darauf bestanden, dass mögliche Vereinbarungen der USA oder der Nato mit Russland nie und nimmer über den Kopf der Ukraine hinweg getroffen werden dürfen. Verstörend ist allerdings die häufig zu hörende Behauptung, jede eigene Positionierung des westlichen Bündnisses stelle eine „Bevormundung“ gegenüber der Regierung in Kiew dar. Sie stammt nicht selten von denjenigen, die im selben Atemzug zu Recht ein anderes Argument benutzen: dass nämlich Putins Angriff „dem Westen“ und seinen freiheitlichen Werten insgesamt gelte. Wenn das so ist, und wenn „der Westen“ die Verteidigung der Ukraine deshalb massiv mit Waffen unterstützt – warum sollte er das nicht auch mit Argumenten tun? Es ist schlicht unpolitisch zu glauben, dass künftige Vereinbarungen ohne Abstimmung zwischen der Ukraine und ihren Verbündeten möglich wären. Das hat mit Bevormundung nichts zu tun.

7. Zur Verteidigung gegen den Angriff eines reaktionären, autoritären, imperialistischen und antiliberalen Regimes gehört auch der kritische Blick auf das, was zu verteidigen die „westliche Wertegemeinschaft“ sich vorgenommen hat: Den Kampf um freiheitliche Gesellschaftsordnungen wird auf Dauer nur gewinnen, wer auch vor der eigenen Haustür kehrt. Zu fragen, wo die Wertegemeinschaft bei all den Kriegen war, denen sie zugeschaut hat, ist absolut legitim. Und ebenso legitim kann es sein, auf frühere Völkerrechtsverletzungen durch westliche Länder, vorneweg die USA, zu verweisen. Nicht um Putins Schuld zu relativieren, sehr wohl aber, weil es am Ende der Verteidigung „westlicher Werte“ dient, wenn wir uns Rechenschaft darüber ablegen, wie konsequent wir ihnen selbst Rechnung tragen.

Es geht nicht darum, die Schuld an Putins Krieg gegen die Ukraine dem Westen zuzuschieben

In weiten Teilen der deutschen Politik herrscht offensichtlich Konsens nur über einen eigenen Fehler: dass im Westen die Gefährlichkeit Putins in den Jahren vor seinem Angriff auf die Ukraine unterschätzt worden sei, vor allem seit 2014, als klar war, dass er seine territorialen Ansprüche im Donbass und auf der Krim offen und mit Gewalt verfolgte. So ehrenwert es ist, auch eigene Fehleinschätzungen in die Analyse einzubeziehen, so irritierend finde ich es, dass diese Eingeständnisse sich praktisch ausschließlich auf eine angeblich mangelnde militärische Verteidigungsbereitschaft beziehen.

Es geht nicht darum, die Schuld an Putins Krieg dem Westen zuzuschieben oder durch Verweise auf Völkerrechtsverletzungen wie im Irak- oder Jugoslawienkrieg zu relativieren, wie das leider auch in Teilen der politischen Linken geschieht. Sehr wohl aber ließe sich mit Blick auf die Zukunft fragen, welchen Interessen Russlands (nicht Putins!) gerecht werden sollte, wer sich die Hoffnung auf eine Zukunft in friedlicher Nachbarschaft nicht nehmen lässt. Warum sollte sich nicht auch aus der seit 1989/90 vorangetriebenen Nato-Osterweiterung Besseres lernen lassen? Ist es etwa schon unmoralisch angesichts des russischen Angriffs, einmal zu fragen, ob „der Westen“ nicht doch im sicheren Gefühl seines Sieges über den Kommunismus Gelegenheiten ausgelassen hat, Russland zum Bau einer gemeinsamen Friedensordnung zu bewegen?

Um zum Schluss noch einmal auf eine Leserzuschrift zu antworten: Bernd Knierim zitiert den US-Autor Benjamin Albelow, der die Politik der Nato kritisiert und hinzufügt: „Hätten die USA und ihre Nato-Verbündeten diese Dinge nicht getan, wäre der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nicht ausgebrochen.“ Genau das ist die Art von Debatte, von der ich dringend abraten würde. Nichts und niemand hat Wladimir Putin gezwungen, zur Vernichtung der Ukraine anzusetzen. Dieser Krieg ist nicht „ausgebrochen“, sondern vom Zaun gebrochen worden. Daran haben Sie, Herr Knierim, erfreulicherweise keinen Zweifel gelassen, nachdem Sie Albelow zitiert haben.

Kurzes Fazit: Über mögliche Wege zum Frieden nachzudenken und die Regierenden bei uns aufzufordern, dies zu tun, stellt keineswegs automatisch eine Kapitulation vor Putin dar. Aber moralisch und politisch glaubwürdig wird es erst dann, wenn an der Verantwortlichkeit für das Völkerrechts-Verbrechen, am Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und solidarische Unterstützung durch Verbündete nicht der geringste Zweifel gelassen wird.

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