Das türkische Spitzelsystem zerschlagen

Der türkische Geheimdienst sorgt bei Regimegegnern in Deutschland für ein Klima der Angst. Angeblich kursiert eine Todesliste - was tut der Staat dagegen? Ein Gastbeitrag.
Kürzlich wurde auf der Autobahn von Aachen Richtung Köln aus einem Auto mehrmals auf den deutsch-türkischen Fußballprofi Deniz Naki geschossen. Zwei Kugeln schlugen in seinem Fahrzeug ein, er selbst wurde nicht verletzt. Seitdem wird gerätselt, wer hinter dem Mordanschlag steckt. Waren es Agenten des türkischen Geheimdienstes?
Deniz Naki ist in der Bundesrepublik aufgewachsen. Der Kurde gilt vielen türkischen Nationalisten als Verräter, weil er das autokratische Regime unter Recep Tayyip Erdogan offen kritisiert. In der Türkei wurde er 2017 wegen seines Einsatzes gegen den Krieg der Regierung in Kurdistan als „Terroristenunterstützer“ zu anderthalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Seit dem Anschlag lebt Naki in Deutschland an einem geheimen Ort.
Schon seit langem ist der kurdische Politiker Yüksel Koç aus Bremen im Visier des türkischen Geheimdienstes MIT. Er kennt seinen Peiniger. Es ist der auf Koç und sein politisches Umfeld angesetzte Agent Mehmet Fatih S., der im Oktober 2017 wegen Spionage für den türkischen Geheimdienst mit einer milden Bewährungsstrafe von zwei Jahren davongekommen ist – obwohl er in ein Mordkomplott gegen Koç und andere verwickelt gewesen sein soll. Dieser Verdacht blieb unberücksichtigt. Wegen akuter Bedrohung muss Koç immer wieder seine Bleibe wechseln.
Der türkische Geheimdienst MIT spioniert hierzulande nach Einschätzung von Sicherheitsexperten mit bis zu 6000 Agenten Oppositionelle und Regimekritiker sowie Vereine, Schulen und sonstige Einrichtungen aus. Im Visier der Agenten sind Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK sowie der Gülen-Bewegung, die die türkische Regierung für den Putschversuch 2016 verantwortlich macht.
Nachdem der MIT dem deutschen Auslandsgeheimdienst BND 2017 schwarze Listen mit Hunderten von Ausforschungszielen übergeben hatte, haben hiesige Sicherheitsbehörden manche Betroffenen informiert und vor Repression und Reisen in die Türkei gewarnt.
Verfahren gegen Agenten eingestellt
Diese Warnungen sind gut und richtig. Auch die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft wegen Verdachts auf geheimdienstliche Agententätigkeit für türkische Geheimdienste – die allerdings weitgehend eingestellt wurden. Die wenigen und auch verspäteten Spionage-Ermittlungen werden jedoch der Dimension geheimdienstlicher Ausforschung und der Bedrohung keineswegs gerecht. Hier müssten die Sicherheitsorgane weit konsequenter intervenieren, um das illegale türkische Spitzelsystem in der Bundesrepublik zu zerschlagen – eigentlich Aufgabe der Spionageabwehr des „Verfassungsschutzes“; und sie müssten dabei auch Hinweisen auf Anschlagspläne nachgehen – zum Schutz der potenziell Betroffenen, für den Polizei, Justiz und Regierung Verantwortung tragen.
In diesem Zusammenhang lässt die besorgniserregende Aussage eines Abgeordneten in der Türkei aufhorchen, derzufolge eine Todesliste existiere, auf der die Namen von Kurden und anderen Oppositionellen stehen sollen, die aus der Türkei stammen und im europäischen Exil leben. Todeskommandos sollen bereits nach Europa geschickt worden sein, um Jagd auf sie zu machen.
Diese Information ist angesichts der bisherigen Vorkommnisse ernst zu nehmen. Sie erinnert daran, dass bereits 2013 in Paris drei kurdische Aktivistinnen von einem mutmaßlichen türkischen Verbindungsmann des MIT ermordet worden sind.
Es kann nicht angehen, dass Kritiker und Gegner des autokratischen türkischen Regimes hierzulande in einem Klima der Angst leben müssen, in Angst vor Bespitzelung, Verfolgung und Bedrohung – oder gar um ihr Leben fürchten müssen, wie Yüksel Koç oder Deniz Naki und viele andere. Diese akute Bedrohungslage müssen Bundesregierung, Polizei und Justiz weit ernster nehmen als bislang.
In diesem Kontext gehört auch die deutsch-türkische Geheimdienst-Kooperation auf den Prüfstand. Deutsche Geheimdienste arbeiten eng mit denen der Türkei zusammen – handelt es sich doch unter Nato-Partnern um befreundete Dienste.
Im gemeinsamen Fokus befinden sich vor allem kurdische Vereine und Aktivisten als angebliche „Terroristen“ und „Terrorhelfer“. Inzwischen sehen sich selbst Polizei und „Verfassungsschutz“ türkischen Infiltrationsversuchen ausgesetzt.
Statt einer noch engeren Kooperation, wie sie vor etwa einem Jahr dem „Verfassungsschutz“ gesetzlich eingeräumt worden ist, sollte angesichts der katastrophalen Menschenrechtslage in der Türkei die Zusammenarbeit mit türkischen Geheimdiensten auf ein unerlässliches Minimum reduziert werden. Das gilt auch für die gesamte deutsch-türkische „Sicherheitskooperation“, die sich in weiten Teilen als bürgerrechtsschädlich erwiesen hat.