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Schluss mit dem Zick-Zack-Kurs

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Von: Holger Schmale

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Flüchtlinge auf dem Weg nach Österreich am ungarischen Grenzübergang Hegyeshalom.
Flüchtlinge auf dem Weg nach Österreich am ungarischen Grenzübergang Hegyeshalom. © dpa

Die Bundesregierung wirkt in der europäischen Flüchtlingskrise ratlos. Das ist zu wenig. Sie sollte mit klarer Haltung helfen, die Europäische Union aus diesem Desaster zu führen. Der Leitartikel.

Der Zickzack-Kurs der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik ist ein Symptom. Er ist die Folge der völligen Unterschätzung eines massiven politisch-humanitären Problems. Und er ist Ausdruck der unklaren Haltung, die Deutschland als europäische Führungsmacht hat. Was nun als übermächtige, Europa und vor allem Deutschland überrollende Welle erscheint, hat sich lange angekündigt. Die Hilferufe der Griechen und Italiener, die der Bootsflüchtlinge und ihrer schrecklichen Schicksale auf dem Mittelmeer nicht mehr Herr wurden, sind in Berlin überhört worden.

Der schändliche Umgang der überforderten Behörden dieser Länder mit den gestrandeten Flüchtlingen, der keinen Deut besser war und ist als jener der Ungarn, die dafür heute massiv kritisiert werden – hat nördlich der Alpen kaum jemanden interessiert.

„Ihr verdient es nicht, Europa genannt zu werden“ rief der italienische Premier Matteo Renzi seinen osteuropäischen Kollegen im Frühsommer zu, als sie das von der EU-Kommission vorgeschlagene Quotensystem ablehnten. Wäre diese Regelung zustande gekommen, wären die Lage der Flüchtlinge heute weniger verzweifelt und die Bemühungen um ihre Betreuung weniger chaotisch. Es gab aber niemanden, der in dieser Frage die politische Führung übernommen, die Einhaltung europäischer Regeln und Standards massiv eingefordert hat – ganz anders als in der parallel eskalierenden Griechenlandkrise. Da setzte Deutschland, setzten Angela Merkel und Wolfgang Schäuble mit all ihrer Macht das aus ihrer Sicht Notwendige durch, ohne Rücksicht auf Widerspruch und Kritik aus der Gemeinschaft.

Zumindest bis dahin hatte Merkel den Wert des Europäischen auf den Wert des Euro reduziert. Seine Stabilität, der Respekt vor den zu seinem Schutz vereinbarten Regeln waren das Maß aller Dinge. Scheitert der Euro, scheitert Europa war die Parole. Der ungarische Premier und Parteifreund der deutschen Christdemokraten Viktor Orban konnte derweil seine antisemitischen und ausländerfeindlichen Tiraden schlagen wie er wollte. Es konnten so viele Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ertrinken wie nie zuvor – die EU schickte eine Betroffenheitsdelegation nach Lampedusa, an ihrer uneinigen Politik änderte sie nichts. Der Schutz der Menschenrechte der Flüchtlinge war auch für die deutsche Politik kein großes Thema, schon gar keines, an dem sich das Schicksal Europas entscheiden könnte. Diese Haltung rächt sich jetzt. Es gibt kaum noch ein gemeinsames Verständnis in den 28 Mitgliedsstaaten der EU, was denn nun eigentlich die unverzichtbaren verbindenden europäischen Werte sind.

Die eher geringe Bereitschaft anderer europäischer Staaten, Deutschland zu folgen und jetzt auch zu helfen, hat auch mit der eigenwilligen Auslegung der europäischen Regeln durch die Bundesregierung zu tun. Im Falle Griechenlands besteht sie auf Durchregieren bis in Details des nationalen Haushalts in Athen. Im Falle der Flüchtlingskrise verlangt sie zunächst streng, die unpraktikable, aber geltende Drittstaatenregelung – Flüchtlinge müssen dort aufgenommen werden, wo sie EU-Gebiet erreichen – durchzusetzen. Und hebt sie dann im Alleingang auf, bekommt dafür Beifall aus aller Welt, beschämt aber die EU-Partner. Schließlich versetzt sie mit ihrem Rückzieher dem Grundprinzip der Reisefreiheit in Europa einen herben Schlag. Das ist kein guter Stil, schon gar kein überzeugender Führungsstil.

Bis heute ist unklar, was Merkel in diesem Sommer innerhalb weniger Wochen zum völligen Umschalten gebracht hat. Von ihrem unbeholfenen Zusammentreffen mit dem Flüchtlingsmädchen Reem und der Botschaft: Wir können nicht alle aufnehmen über ihren nur unter öffentlichem Druck zustande gekommenen Besuch in der von Neonazis umlagerten Flüchtlingsunterkunft Heidenau bis zur womöglich zu großzügigen Entscheidung vom vorvergangenen Wochenende, alle Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland reisen zu lassen, verbunden mit der mutigen Botschaft: Wir schaffen das! ist ein drastischer Meinungswandel der Kanzlerin erkennbar. Erklärt hat sie ihn bisher nicht. Es lässt sich nur spekulieren, dass es die Anschläge auf Flüchtlingsheime waren, die Hassbotschaften der Nazis, die Merkel zu ihrer Kehrtwende bewegt haben. Bei kaum einem Thema ist sie so entschlossen.

Aber wie sich nun zeigt, hat sie ihre aus humanen Erwägungen vollzogene Kursänderung schlecht im politischen System und den Strukturen sowohl der EU als auch der föderalen Bundesrepublik und ihrer eigenen Koalition verankert. Nun lautet die Botschaft: Vielleicht schaffen wir es doch nicht! Das ist einerseits eine gefährliche Verunsicherung all jener, die sich seit Tagen rastlos für die Flüchtlinge, ihre Versorgung und Betreuung einsetzen. Es ist andererseits ein Signal an jene, die sich Sorgen machen angesichts der Belastungen, die auf die deutsche Gesellschaft zukommen. Es ist vor allem ein Zeichen großer Ratlosigkeit. Das aber ist zu wenig für eine Regierung in kritischer Lage.

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