Politik für die "kleinen Leute"

Linke Politik muss wieder die "soziale Frage" stellen. Es braucht eine faire kulturelle und ökonomische Teilhabe aller. Ein Gastbeitrag von Nils Heisterhagen, Referent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz.
Die „kleinen Leute“ sind gerade hoch im Kurs. Zumindest rhetorisch. Horst Seehofer sprach gerade von der „großen Koalition für die kleinen Leute“. Bernd Ulrich von der Wochenzeitung „Die Zeit“ reizte dies so sehr, dass er daraufhin in einem Leitartikel von der Arroganz sinnierte, die in diesem Ausdruck liegt. Er forderte zugleich dieses Gerede von den kleinen Leuten einzustellen.
Das wäre aber falsch. Es ist vielmehr richtig, wieder stärker über die „kleinen Leute“ zu sprechen. Gerade für die deutsche Linke. Warum? Und wofür sind die „kleinen Leute“ ein Symbol?
Übertreibungen eines postmodern geprägten Linksliberalismus
Dazu will ich mit einer persönlichen Erfahrung beginnen. Im Januar 2017 forderten der Politikwissenschaftler Dirk Jörke und ich in einem Beitrag für die „FAZ“, dass die Linken sich wieder mehr für die „kleinen Leute“ interessieren, sich um sie kümmern und eben für sie auch Politik machen sollten – ohne andere Gruppen dabei zu vergessen.
Der Punkt war, dass wir gleichzeitig Kritik an den Übertreibungen eines neuen postmodern geprägten Linksliberalismus übten – Neigung zu Moralisierung, einseitiger Fokus auf Minderheitenrechte und Multikulturalismus. Wir identifizierten den linken Fokus auf eine liberale Identitätspolitik also als problematisch für die Linke.
Das wurde uns in einer Debatte in der TAZ, in der fünf Repliken auf den FAZ-Text erschienen, insofern zum Verhängnis, dass man uns zum Teil implizit vorwarf, liberale Werte anzugreifen. Vor allem die Kritik an einer liberal-postmodernen Identitätspolitik hatte scheinbar einen wunden Punkt bei vielen Linksliberalen getroffen.
Anti-Diskriminierungspolitik zu sehr ins Schaufenster gestellt
Dabei wollten wir Minderheitenrechte und Anti-Diskriminierungspolitik gar nicht diskreditieren, sondern eigentlich nur sagen, dass man erstens diese Anti-Diskriminierungspolitik zu sehr ins Schaufenster des politischen Angebots der linken Parteien gestellt hat und zweitens mit Blick auf den Aufstieg des Rechtspopulismus es eher ratsam ist, wieder stärker die „soziale Frage“ zu adressieren. Wir plädierten somit vielmehr für eine Einheit von neuer und alter Linke. Es geht darum die gespaltene Linke wieder zusammenzubringen.
Nun löst dieser Fokus auf die „kleinen Leute“ bei einigen eher dezidiert liberal Denkenden aber eben scheinbar so eine Art von Reflex aus. So wie bei Bernd Ulrich. Wenn man „kleine Leute“ sagt, kommt bei ihnen zum Beispiel an: Die meinen die „deutschen“ kleinen Leute.
Dann wird angenommen, dass man den deutschen Arbeiter jetzt gegen die Menschen mit Migrationshintergrund ausspielen will. Dagegen wird dann eine Anerkennungspolitik dieser Menschen gesetzt. So läuft der Diskurs mit gegenseitigen Vorwürfen.
Ich glaube, es gibt hier ein Kommunikationsproblem. Es sollte deswegen klar und deutlich gesagt werden: Nur wer „kleine Leute“ sagt, muss nicht gegen Ausländer sein. Er muss schon gar nicht Menschen mit Migrationshintergrund heimlich benachteiligen wollen.
Vielmehr gilt: Der durchschnittliche Bürger mit Migrationshintergrund gehört in der Regel sogar selbst zu den „kleinen Leuten“. Und meine Vermutung ist hier, dass dieser durchschnittliche Bürger mit Migrationshintergrund in der Regel glücklicher sein wird, wenn sein Gehalt steigt und er nicht so viel für die Miete zahlen muss, anstatt dass einige akademische Linke ihm eine rein immaterielle Anerkennung verschaffen wollen, indem sie betonen, dass Vielfalt und Toleranz in der Gesellschaft wichtige Werte sein müssen.
Anerkennung ist wichtig. Das stelle ich ausdrücklich nicht in Frage. Aber im Geldbeutel des türkischen Arbeiters kommt das auch nicht an. Und das ist eine Realität. Darüber muss man sprechen dürfen.
Es stimmt zwar, dass die Bezeichnung „kleine Leute“ vielleicht selbst als kulturell abwertend und als verletzend empfunden werden kann und begriffstechnisch nicht die allerbeste Bezeichnung ist. Ich verleugne nicht, dass das falsch verstanden werden kann.
Es sollte aber nicht. Es meint: Die – linke – Politik muss endlich wieder die „soziale Frage“ stellen. Es braucht eine faire kulturelle und ökonomische Teilhabe aller Schichten. Niemand darf ausgegrenzt werden: Das gilt auch ökonomisch.
Identitätspolitik für sich alleine genommen, ist jedenfalls falsch, wenn sie nur meint eine liberale Haltung einzufordern und zu bewerben. Nur Haltung reicht nicht. Am Ende muss man also Politik machen – etwas tun, wie Gesetze schaffen. Auch und gerade für die „kleinen Leute“. Und ein höherer Mindestlohn etwa wäre Politik für die kleinen Leute. Das wäre eine konkrete Antwort auf die „soziale Frage“.
Nils Heisterhagen ist Referent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus seinem Buch „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“.