Pekings Machtspiel in Moskau

Der chinesische Präsident Xi Jinping reist nach Moskau. Wird er Frieden für die Ukraine bringen? Wohl kaum. In Chinas Plan fehlt jeder Hinweis auf einen gerechten Frieden. Der Leitartikel.
Sind wir immer noch so naiv? Oder schon wieder? Viele Europäerinnen und Europäer werfen, nachdem sie sich in Wladimir Putin furchtbar geirrt haben, ihre Hoffnungen auf den Staatschef von China: Vielleicht bewirke der ja, so lautet der Wunschgedanke, bei seinem dreitägigen Besuch in Russland so etwas wie den Anfang vom Ende des Kriegs in der Ukraine.
Xi Jinping, der Friedensfürst? Hier bahnt sich eine zweite gigantische Fehleinschätzung an.
Daneben liegt schon, wer auch nur glaubt, aktuelle Gründe hätten Xi bewogen, nach Moskau zu reisen. Der Gebieter über 1,4 Milliarden Menschen hält schlicht an seinen ganz eigenen Routinen fest. Schon im Jahr 2013 führte Xis erste Auslandsreise als Staatschef nach Moskau. 2018 ging es so weiter. Und nachdem Xi jetzt seine dritte Amtszeit durchgesetzt hat, geht der erste Flug überraschungsfrei abermals zu Putin. Das einzig Neue liegt darin, das gegen „den lieben Freund“ ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt.
Indem Xi und Putin einander trotz alledem die Hände schütteln, zeigen beide, wie herzlich egal ihnen der Rest der Welt ist. Doch damit nicht genug. Am Vorabend des Russland-China-Gipfels machte Putin das Bild von Starrsinn und Zynismus noch komplett. Erstmals stattete der Kriegsherr dem von ihm zerstörten Mariupol einen Besuch ab – und trat damit die Gefühle unzähliger Menschen mit Füßen, deren Angehörige in der ukrainischen Hafenstadt starben oder verkrüppelt wurden, deren Häuser zusammensanken und deren Kinder verschleppt wurden.
In Chinas Zwölf-Punkte-Papier zum Krieg in der Ukraine kommen die russischen Kriegsverbrechen nicht vor. Auch der Gedanke, dass es dem Frieden dienen würde, als erstes die am 24. Februar 2022 völkerrechtswidrig in die Ukraine eingedrungenen russischen Truppen zurückzuziehen, findet sich darin nicht. Mal ehrlich: Wie könnte ein Friedensplan für die Ukraine aussehen? Jeder moderne Chat-Roboter liefert dazu auf Knopfdruck Redlicheres und Klareres als alles, was Peking dazu von sich gibt.
Wird Xi in Moskau dennoch von Frieden reden? Natürlich. Der chinesische Staatschef hat zwei Gesichter. Das freundlichere wird er in nächster Zeit in Richtung Europa zeigen – und zugleich auf böse Kräfte in den USA verweisen. Teile und herrsche, divide et impera – das war schon im alten Rom ein bewährtes Konzept.
Für Xi bietet sich in der Ukraine die Chance, nach und nach zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Russland könnte langfristig aufgerieben, der Westen langfristig auseinander getrieben werden.
Schreiten beide Prozesse 2024, im Jahr der Präsidentschaftswahl in den USA, weiter voran, wäre der historische Gewinner ironischerweise eine Nation, die keinen Schuss abgefeuert und keinen Panzer geliefert hat: China.
Begeistert wäre der chinesische General und Philosoph Sun Tzu. Der lehrte schon vor zweieinhalbtausend Jahren, wie ein Staat elegant und effektiv zugleich zu mehr Macht gelangen kann: „Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“
Oft wird der Ukraine-Konflikt als militärische Herausforderung für den Westen beschrieben, zunehmend auch als ökonomische. Der Anfang von allem aber liegt im Strategischen. Die USA und die Europäische Union müssen aufpassen, dass sie nicht absinken zu kleinen Figuren in Xis großem Spiel.
Krieg oder Frieden? Xi Jinping bleibt im Ukraine-Konflikt an einem Schwebezustand interessiert. Das festigt seine Macht. Ihm genügt der Eindruck, dass er die Puppen in die Hand nehmen und an den Fäden ziehen könnte, wenn er wirklich wollte. Vieles ist möglich: ein Friedenssignal hier, eine kleine Geste der Demütigung Putins dort. Einstweilen aber genießt Xi seine neue Rolle: die des unbewegten Bewegers.