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Opfer ohne Namen

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Deutschland gedenkt der Opfer. Doch nicht alle Namen werden genannt.
Deutschland gedenkt der Opfer. Doch nicht alle Namen werden genannt. © dpa

Wenn am Samstag der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, werden einige Namen nicht genannt. Dabei ist das Schweigen über die Opfer der Euthanasiemorde völlig unangemessen. Bis 1945 fielen diesem Programm an die 200.000 Deutsche zum Opfer – ein beispielloser Akt kollektiver Autoaggression und seelischer Selbstverstümmelung.

Von Götz Aly

Am kommenden Samstag, dem 1. September, wird der 54 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs gedacht. Anders als den Ersten Weltkrieg verschuldete Deutschland den Zweiten allein. So gehört zum 1. September auch der Dank an die alliierten Soldaten, auch an Rotarmisten und Bomberpiloten, dass sie unter schweren Opfern den Sieg erfochten, Europa von den Deutschen befreiten – und die Deutschen von sich selbst. Das Glück der heutigen Bundesbürger verdankt sich der blutigen Niederlage ihrer Groß- und Urgroßväter – 18 Millionen von ihnen hatten in der Wehrmacht gedient, nicht wenige aus Überzeugung.

Seit gut 20 Jahren wird am 1. September auch an die Opfer der Euthanasiemorde erinnert. Auf den Tag des Kriegsbeginns hatte Hitler jenen Vermerk datiert, mit dem er erlaubte, Geisteskranken und Behinderten von Staats wegen „den Gnadentod zu gewähren“. Bis 1945 fielen diesem Programm an die 200.000 Deutsche zum Opfer – ein beispielloser Akt kollektiver Autoaggression und seelischer Selbstverstümmelung.

Die Massenmorde an den chronisch kranken Deutschen lehrten die NS-Regierung bis 1941 vor allem eines: Wer zulässt, dass die eigene an Schizophrenie leidende Tante in der Gaskammer ermordet wird oder der fünfjährige spastisch gelähmte Sohn die Todesspritze erhält, der wird sich nicht um das Schicksal der als Weltfeinde, Verräter und Kriegsschuldige verfemten Juden scheren, der wird gleichgültig bleiben, wenn zwei Millionen sowjetische Gefangene binnen sechs Monaten verhungern, damit deutsche Soldaten und deren Familien mehr zu essen haben.

Anders als die Öffentlichkeit gedenken sehr wenige deutsche Familien ihrer Verwandten, die seinerzeit als „Erbkranke“ oder „nutzlose Esser“ ermordet wurden. Bei Veranstaltungen, in Büchern und auf Denkmälern werden deren Namen verschwiegen, mit verklemmter Diskretion ist von Henry K. und Louise S. die Rede. Aber warum? Nach dem Bundesarchivgesetz dürfen sämtliche in den Akten genannte Namen der vor dem 8. Mai 1945 Ermordeten veröffentlicht werden. Der Datenschutzbeauftragte des Bundes teilte mir mit: Für Tote gilt kein Datenschutz; er gab jedoch zu bedenken, man möge Rücksicht auf die heute lebenden Verwandten nehmen. Sie könnten sich beeinträchtigt fühlen, wenn bekannt werde, dass ein Familienmitglied wegen manischer Depression, Alkoholismus, Epilepsie oder angeborener Behinderung ermordet worden sei. Wer aber, so ist zu fragen, hat nicht im weiteren Familienkreis solche Verwandte? Ist das eine Schande? Ist es nicht vielmehr schändlich, die Namen von Opfern der Gewaltherrschaft zu unterschlagen?

Als eine der wenigen hat Sigrid Falkenstein das verschämte Schweigen gebrochen und in ihrem beeindruckenden Buch „Annas Spuren. Ein Opfer der NS-,Euthanasie‘“ (Herbig Verlag) das Schicksal ihrer Tante Anna Lehnkering beschrieben, die am 7. März 1940 in der Gaskammer Grafeneck starb. Verehrte Leserinnen und Leser, wissen oder ahnen Sie etwas von einem solchen ermordeten Verwandten? Wäre es nicht gut, Sie könnten einfach in einer Gedenkdatei nachschauen und sich Gewissheit verschaffen? Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit, den Ermordeten wenigstens ihre Namen zurückzugeben? Schreiben Sie uns Ihre Meinung.

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