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Nach dem Lehrbuch des Neoliberalismus: Olaf Scholz im Windschatten der FDP

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Von: Stephan Hebel

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Lindner und Scholz
Christian Lindner (l.) und Olaf Scholz zu Beginn einer Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt. © Bernd von Jutrczenka/dpa

Schuldengrenze und Steuertabu: Auch unter einem SPD-Kanzler wird Deutschland nach dem Lehrbuch des Neoliberalismus regiert. Die FDP dient als willkommenes Alibi.

Vor wenigen Tagen erschien in der FR eine kleine Meldung mit großer Aussagekraft. „Scholz gegen viele Schulden“, lautete die Überschrift, und im Text wurde ein Interview des Bundeskanzlers mit dem Handelsblatt zitiert: Er sehe im Haushalt „an vielen Stellen“ Einsparpotenzial, hatte Olaf Scholz gesagt, und die Nachrichtenagentur AFP fügte treffend hinzu: „Er griff damit die Argumentation von Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf.“

Wer das Interview nachliest, sucht vergeblich nach einer Antwort auf die Frage, welche „Stellen“ das wohl sind, an denen gespart werden soll. Die Fragesteller versuchten es sogar mit Vorschlägen, die bei Redakteuren einer eher unternehmensnahen Zeitung vielleicht überraschen: „Sie könnten doch die Kerosinsteuer erhöhen oder das Dienstwagenprivileg streichen. Alles, was die Umwelt belastet.“ Aber der SPD-Mann beliebte darauf nicht zu antworten, sondern zu scherzen: „Führe ich wirklich ein Interview mit dem Handelsblatt?“ Es folgte dann noch eine Nichtaussage: „Ich kann Ihnen versichern, wir werden einen gut tarierten Haushalt aufstellen.“

An der Schuldenbremse, die nennenswerte Kredite nur im Notfall erlaubt, wird nicht gerüttelt

Was Olaf Scholz mit „austariert“ meint, lässt sich dem folgenden Satz aus dem Interview entnehmen: „Nun besteht die Herausforderung darin, Haushalte aufzustellen, die ohne Nutzung der Ausnahmeregel vom Grundgesetz auskommen.“ Will heißen: An der Schuldenbremse, die nennenswerte Kredite nur im Notfall erlaubt, wird nicht gerüttelt. Schließlich hatte die SPD dieses Kernstück neoliberalen Staatsverständnisses im Jahr 2009 gemeinsam mit CDU und CSU im Grundgesetz verankert – gegen den Widerstand des eigenen linken Parteiflügels sowie der Grünen und der Linkspartei, bei Enthaltung der seinerzeit oppositionellen FDP.

Nun ließe sich fragen: Warum soll eine Schuldenbremse wie diejenige in Artikel 109 des Grundgesetzes („Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“) als Kernstück neoliberalen Staatsverständnisses gelten? Es klingt ja zunächst sehr einleuchtend, dass der Staat nur ausgeben kann, was er vorher eingenommen hat, und genau so werden Sparpolitik und Zurückhaltung bei öffentlichen Investitionen in Infrastruktur oder Daseinsvorsorge immer wieder begründet. Da passt, um schon mal politisch zu werden, zwischen Olaf Scholz und FDP-Chef Christian Lindner kein Blatt Papier, nicht mal ein Fünf-Euro-Schein.

Nur beim 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm streitet die Ampel nicht

Was aber dabei gezielt „vergessen“ wird: Ein Staat hätte (anders als die einst von Angela Merkel zitierte „schwäbische Hausfrau“) die Möglichkeit, seine Einnahmen dem politisch festgestellten Bedarf anzupassen und nicht umgekehrt. Er hätte zum einen keine objektiven Probleme, mehr Kredite aufzunehmen, schon gar nicht, wenn er als zuverlässiger Schuldner gilt. Er müsste dazu nur anerkennen, dass nicht Kredite die nachfolgenden Generationen ungebührlich belasten, sondern die Verweigerung ausreichender Investitionen in Eisenbahnstrecken, Batterieforschung und Schulen. Dass öffentliche Investitionen, gut eingesetzt, die Gesellschaft und die Bürger:innen nicht bevormunden, sondern in ihrer Selbstentfaltung stärken.

Wenn schon Schulden als Teufelswerk gelten, hätte der Staat eine zweite Möglichkeit, die der schwäbischen Hausfrau eher nicht zur Verfügung steht: Er könnte seine Einnahmen erhöhen. Zum Beispiel durch eine stärkere Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen, was aber fast schon seit Jahrzehnten mit der Verdummungsparole „Keine Steuererhöhungen“ (als wollte die irgendjemand für alle!) verhindert wird.

Die Serie

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

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Schuldengrenze und Steuertabu: Deshalb streitet die Ampel aktuell über Themen wie die ausreichende Finanzierung einer Kindergrundsicherung, die den Skandal der Armut mitten im Reichtum wenigstens lindert, und deshalb wird sie über die Unterstützung beim erwünschten Austausch klimaschädlicher Heizungen streiten. Nur beim 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm streitet sie nicht, da war ein Schattenhaushalt ruckzuck aufgestellt.

Was im Großen und Ganzen bleibt, ist eine Politik, die öffentliche Investitionen zum Ausgleich marktbedingter Versäumnisse und Ungerechtigkeiten, zur notwendigerweise radikalen Stärkung von Klimaschutz, Bildung, Gesundheit, technologischer Neuerung und vielem anderen systematisch deckelt – in der vielfach widerlegten Annahme, der Markt könne all das besser. Und hier zeigt sich ein oft übersehenes politisches Strukturprinzip der Scholz’schen Ampelregierung: Dem Kanzler konnte und kann aus seiner ideologischen Sicht nichts Besseres passieren, als die FDP an seiner Seite zu haben.

Die Freimarkt-Demokraten sind es, denen das Festhalten an der Ideologie des schwachen Staates allgemein zugeschrieben wird. Sie sind es, auf die der Kanzler im Zweifel verweisen kann, wenn unpopuläre Sparmaßnahmen zur Einhaltung des Schulden- und Steuertabus anstehen – die zwar auch seinem Weltbild entsprechen, zu denen er sich aber mit Rücksicht auf linke Restbestände in der eigenen Partei und auf grüne Wünsche in der Klima- oder Sozialpolitik nicht ganz so offen bekennen kann.

Grüne werden der FDP-gesteuerten Haushaltspolitik nichts Gleichgewichtiges entgegensetzen

Die Grünen, auch das ist anzumerken, werden dieser Form FDP-gesteuerter und zugleich Scholz-konformer Haushaltspolitik nichts Gleichgewichtiges entgegensetzen, auch wenn sie sich in einzelnen Punkten gegen die Lindner’schen Sparzwänge stellen. Mit der Schuldenbremse, die sie einst gemeinsam mit der Linken ablehnten, haben sie sich längst angefreundet, und von gerechteren Steuern reden auch sie schon längst nicht mehr.

Es gibt also gute Gründe, dem in der Berichterstattung gelegentlich entstehenden Bild von einem Kanzler Scholz zu misstrauen, der als ehrlicher Makler zwischen Grünen (links) und FDP (rechts) in der Mitte steht. Ohne Zweifel ist die Ampel bei Klima, Mindestlohn, gesellschaftlicher Liberalität und anderem reformeifriger, als eine Regierung unter Führung der CDU/CSU es wäre. Aber was das grundlegende Staatsverständnis betrifft, wird dieses Land auch unter einem sozialdemokratischen Kanzler im Bündnis mit Grünen und FDP wieder nach dem Lehrbuch des Neoliberalismus regiert. Um einen Satz von Olaf Scholz aus dem Interview im Handelsblatt aufzugreifen: „FDP, Grüne und SPD wollen Fortschritt für Deutschland erreichen, deshalb passen diese drei Parteien auch zusammen.“ Der zweite Teil stimmt, leider.

Teil 2: Beneidenswerte Protestkultur

Widerstand gegen die Rentenreform in Frankreich.
Widerstand gegen die Rentenreform in Frankreich. © Lewis Joly/dpa

Ein Blick nach Frankreich: Warum eigentlich regen sich die Leute dort so auf, wenn sie mit 64 statt 62 Jahren in Rente gehen sollen? Es gibt dafür viele Gründe. Die Tradition, sich gegen die Einschränkung sozialer Rechte zu wehren, ist einer davon, die fast autokratische Attitüde, mit der das Gesetz jetzt am Parlament vorbei durchgeboxt wurde, ein anderer. Vor allem aber haben die Französinnen und Franzosen den Kern dieses Projekts besser verstanden, als Schlagzeilen es wiedergeben.

Das Schlagwort „Rente mit 64“ trifft die Sache nur sehr begrenzt. Wer sie abschlagsfrei bekommen will, muss künftig 43 Jahre gearbeitet haben (bisher: Rente mit 62 bei 42 Arbeitsjahren). Wer zunächst studiert hat, schafft das auch heute nicht, hat aber in der Regel ein höheres Einkommen und ist körperlich weniger belastet, kann sich also im Zweifel Abschläge oder ein Weiterarbeiten bis 67 leisten. Mit anderen Worten: Die „Reform“ stellt diejenigen schlechter, die schon jetzt weniger verdienen und oft schon vor der Rente gesundheitlich angeschlagen sind.

In dieser sozialen Unausgewogenheit zeigen sich Parallelen zur deutschen Rente mit 67. In der Bereitschaft zum Widerstand allerdings liegt die französische Protestkultur weit vorn. Das ist beneidenswert – vorausgesetzt, die Leute fallen nicht auf die national-soziale Scheinalternative der extremen Rechten herein.

Hebel antwortet

Der Krieg in der Ukraine hat hoffentlich bald ein Ende.
Der Krieg in der Ukraine hat hoffentlich bald ein Ende. © Aris Messinis/afp

Ich möchte mich heute für die zahlreichen Zuschriften – zustimmende wie kritische – bedanken, die ich zu meinem Text „Keine simplen Gleichungen“ bekommen habe. Darin hatte ich vor zwei Wochen versucht, der Debatte über den Ukraine-Krieg eine mögliche Position jenseits moralischer Monopolansprüche auf dieser oder jener Seite gegenüberzustellen. Sowohl diejenigen, die Verhandlungen skeptischer gegenüberstehen als ich, als auch diejenigen, die die Waffenlieferungen negativer beurteilen, haben sich durchweg sachlich und freundlich geäußert, danke auch dafür! Leider schaffe ich es nicht, allen persönlich zu antworten.

Wenigstens auf einen Aspekt gehe ich kurz ein. Einige Zuschriften, etwa von Joachim Reinhardt und Peter Stark, schildern noch einmal kritisch die Politik „des Westens“, besonders der Nato, vor dem russischen Einmarsch. Auch ich plädiere dafür (und habe das auch in meinem Text getan), diesen Aspekt der Vorgeschichte nicht auszublenden. Aber der Grat, jenseits dessen das Ganze in eine Verharmlosung des russischen Angriffs ausartet, ist aus meiner Sicht sehr schmal.

Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, dass der Krieg und der damit notwendige Fokus auf die russischen Verbrechen bald endet. Dann hielte ich es eher für legitim, auch die westliche Seite stärker in die historische Aufarbeitung einzubeziehen.

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