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Offener Brief in der „Emma“: Wichtige Wortgefechte

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Von: Stephan Hebel

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Von brüchiger Stabilität und atomarer Abschreckung bis zur Abschottung an den Außengrenzen: Darf man so etwas eine friedliche Ordnung in Europa nennen? Imago Images
Von brüchiger Stabilität und atomarer Abschreckung bis zur Abschottung an den Außengrenzen: Darf man so etwas eine friedliche Ordnung in Europa nennen? © Imago Images

Was bedeutet „die europäische Friedensordnung“? Außerdem eröffnet ein offener Brief eine überfällige Debatte. Die 14-Tage-Bilanz.

Europäische Friedensordnung: Am 8. Mai jährt sich zum 77. Mal der Tag, an dem der Sieg der Alliierten den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Herrschaft beendete. 77 Jahre, das ist praktisch ein ganzes Menschenalter, und zumindest Mitteleuropa hatte in dieser Zeit das Glück, „in Frieden zu leben“, wie das immer so schön heißt. Weder in der prekären Stabilität des nuklearen Gleichgewichts bis 1989 noch in den Neunzigern, als im ehemaligen Jugoslawien die ersten europäischen Kriege seit 1945 tobten, war die Furcht vor einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg auch nur annähernd so groß wie jetzt.

Dass für diese „Zeitenwende“ kein anderer verantwortlich ist als Wladimir Putin mit seinem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine, steht für alle, die sich der Wirklichkeit nicht verweigern wollen, außer Frage. Und dass das angegriffene Land bei seiner Selbstverteidigung unterstützt werden muss, auch mit Waffen, scheint in Deutschland inzwischen Mehrheitsmeinung zu sein – allem Streit über Art und Umfang zum Trotz (siehe dazu Punkt 2).

So weit, so einigermaßen klar. Aber was genau ist die Grundlage der Entscheidungen, die jetzt getroffen werden? Auf welcher Analyse beruhen sie, welche Interpretation der Ereignisse liegt ihnen zugrunde? Da gibt es eine Version, die inzwischen bei uns zum Standardrepertoire gehört: „Russland (…) versucht, die europäische Friedensordnung dauerhaft zu zerstören.“ So steht es zum Beispiel im gemeinsamen Antrag der Ampelkoalition und der CDU/CSU zur Lieferung schwerer Waffen, der in der vergangenen Woche im Bundestag verabschiedet wurde.

Wie soll eine „europäische Friedensordnung“ überhaupt aussehen?

Hebel meint: Sollten wir nicht mal fragen, ob es sich bei dem, was Putin zu zerstören versucht, wirklich um eine „europäische Friedensordnung“ handelt? Hat es so etwas nach dem 8. Mai 1945 oder wenigstens nach dem historischen Umbruch von 1989 je gegeben? Das ist keine akademische Frage, sondern von zentraler Bedeutung für die Gegenwart – und erst recht für die notwendigen Diskussionen über eine Zukunft ohne Krieg.

Schon im Jahr 1999 stellte der Friedensforscher Dieter S. Lutz fest: „Eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung existiert nicht. Weder gibt es eine Friedensordnung, welche die Bezeichnung ,europäisch‘ verdient. Noch gibt es eine Ordnung Europas, welcher der Name ,Friedens‘-Ordnung gebührt.“

Was die Europäische Union betrifft, mag das anders sein. Hier ist es trotz aller Fehler und Ungerechtigkeiten und trotz skandalöser Abschottung an den Außengrenzen immerhin gelungen, aus einstigen Kriegsgegnern wie Frankreich und Deutschland Partner zu machen, zwischen denen eine militärische Konfrontation nicht mehr denkbar erscheint. Aber Europa ist bekanntlich größer als die EU, und ob uns das passt oder nicht: Auch Moskau liegt auf diesem Kontinent, genauso wie Kiew.

Europa: Eine Friedensordnung war es sicher nicht

Wer also Europa als Ganzes betrachtet, wird für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg allenfalls eine Art Nichtkriegsordnung erkennen. Es wäre schon sehr gewagt, die brüchige Stabilität der atomaren Abschreckung zwischen den Nuklearmächten und das Leben der beiden deutschen Staaten unter den atomaren „Schutzschirmen“ der Großmächte als Friedensordnung zu bezeichnen.

Für die Zeit nach dem Ende der Sowjetunion gilt leider Ähnliches. Da war auf der einen Seite Russland, das zunehmend auf die Durchsetzung imperialer Herrschaftsansprüche in seiner Umgebung setzte, ideologisch immer stärker untermalt mit reaktionären Erzählungen zum Kampf gegen den dekadenten Westen. Auf der anderen Seite die Nato: Ihr die Schuld an Putins Verbrechen zu geben, wie das teilweise geschieht, wäre zwar zynisch und absurd. Daran, dass sich das Bündnis nie überzeugend zu positionieren wusste zwischen Konfrontation und Kooperation mit Moskau, ändert das allerdings nichts. Das Ergebnis war zwar die vorübergehende Abwesenheit von Krieg, aber eine Friedensordnung war es sicher nicht.

Ist es Wortklauberei, darauf hinzuweisen? Nein, das ist es nicht. Wer den Glauben an eine gestaltbare Zukunft nicht aufgeben will – und wer das täte, wäre in der Politik schlecht aufgehoben –, sollte schon bei der Wortwahl gewissenhaft sein. Der Zustand, der bis zum 24. Februar 2022 oder zumindest bis zur Annexion der Krim durch Moskau herrschte, lässt sich allenfalls als mühsam eingehegte Konfrontation beschreiben. Wer ihn „Friedensordnung“ nennt, legt die Vermutung nahe, diesen Zustand wiederherstellen zu wollen. Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein.

Die Serie

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ am Donnerstag, 30. Juni, 19 Uhr im Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5 in Frankfurt. Anmeldung unter www.club-voltaire.de , Livestream: www.fr.de/hebelsstunde

Ein offener Brief an Scholz setzt eine überfällige Debatte in Gang

Offener Brief in der „Emma“: Nicht wichtiger, aber aktuell drängender ist natürlich die Frage, wie die Ukraine jetzt zu unterstützen sei. In den vergangenen Tagen war deutlich zu bemerken, dass die weitgehende politische Schockstarre einer Bereitschaft weicht, auch mal wieder über die richtigen Wege zu streiten. Bei den Grünen zum Beispiel war wochenlang nur Anton Hofreiter aufgefallen, der der abwägenden Haltung des Bundeskanzlers und der Ampel-Regierung auf allen Kanälen eine Art innerkoalitonäre und innerparteiliche Opposition entgegensetzte: mehr Waffen, schwerere Waffen, und zwar schnell. Da musste selbst die Union als größte „echte“ Oppositionsfraktion sich anstrengen mitzuhalten.

Jetzt melden sich bei den Grünen erste Stimmen, die die militärische Hilfe zwar mit Recht nicht ablehnen, aber doch zur Abwägung mit möglichen Eskalationsrisiken mahnen. Und auch darüber hinaus tut sich einiges: Der Philosoph Jürgen Habermas verteidigt die Zurückhaltung eines Bundeskanzlers, der im furchtbaren Dilemma zwischen moralischer Pflicht zum Widerstand gegen Putin und Abwägung möglicher Risiken die Hauptverantwortung trägt. Und Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer initiiert einen Brief von Prominenten, die die Gefahr eines nuklearen Krieges in den Mittelpunkt ihrer Kritik an der Lieferung schwerer Waffen stellen. Gefolgt wiederum vom heftigen Protest derjenigen, die davor warnen, den Widerstand von der Willkür des Aggressors abhängig zu machen.

Offener Brief in der Emma: Wichtiger Beitrag zur Debatte

Hebel meint: Dass wenigstens Teile der Grünen nun auch die Gegenposition zu Hofreiter einnehmen und mehr statt weniger Zurückhaltung einfordern, ist nur zu begrüßen. Wenn die vielzitierte Verteidigung von Demokratie und Freiheit eine Chance haben soll, darf es einfach nicht sein, dass sich die Opposition gegen den Kurs der Ampel-Regierung auf jene beschränkt, die nach noch mehr Waffen und noch mehr Aufrüstung rufen. Es muss auch Gegenstimmen geben, im Zweifel auch radikale. Denn es soll ja wohl dabei bleiben, dass eine Regierung am ehesten zu weisen Entscheidungen kommt, wenn sie unter einem gewissen Rechtfertigungszwang steht, wenn sie also ihr Handeln immer wieder überprüfen muss.

Auch was den offenen Brief von Schwarzer & Co. betrifft, ist es zunächst einmal nur zu begrüßen, wenn sich Menschen aus Wissenschaft, Kultur und Showgeschäft positionieren. Das muss allerdings keineswegs heißen, ihnen in allem zuzustimmen.

Gutzuschreiben ist den Unterzeichnenden des Briefes, dass sie darauf beharren, sich durch die Willkür und Unberechenbarkeit eines kriegführenden Autokraten nicht vom Nachdenken abhalten zu lassen. Sie schaffen damit ein Gegengewicht zu denen, die behaupten, „der Westen“ könne auf eine Folgenabschätzung des eigenen Handelns gleich ganz verzichten, da Putin ja ohnehin mache, was er wolle. Dieses Argument drehen sie um: Wer den – notwendigen – Kampf gegen Putin führe, ohne seine möglichen Reaktionen, so gut es eben geht, ins Kalkül zu ziehen, beraube sich eines Teils der Rationalität, mit der wir uns gerade von der Irrationalität des Angreifers unterscheiden wollten. So jedenfalls lässt sich der Tenor des Briefes verstehen.

Offener Brief: Argumentation durch unbedachte Formulierungen geschwächt

Es ist gut, dass diese Gegenposition nun „auf dem Markt“ ist. Es ist allerdings bitter, dass die Autorinnen und Autoren des vieldiskutierten Briefes die eigene Argumentation schwächen, indem sie unbedacht formulieren: Zum einen nähren sie den Verdacht zu glauben, dass es der ukrainischen Bevölkerung unter russischer Herrschaft besser ginge als im Widerstand – und dass darüber nicht die Ukraine allein zu entscheiden habe. Zweitens warnen sie in allzu platter Form davor, Putin „sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln zu liefern“. Nein, seine Motive hat dieser Verächter des Völkerrechts schon selbst, niemand muss sie ihm „liefern“. Sehr wohl aber ginge es darum, unermüdlich nach allen – nicht nur militärischen – Mitteln zu suchen, mit denen sich der Unberechenbare vielleicht doch beeinflussen ließe. Das zu fordern, hätte den Vorstoß wirklich überzeugend gemacht.

Aber die Debatte ist eröffnet. Und die Hoffnung, dass die Weisheit der vielen sie noch ins richtige Maß bringt, darf in einer Demokratie nie und nimmer aufgegeben werden. (Stephan Hebel)

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