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Nicht an Unrecht gewöhnen!

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Von: Maximilian Pichl

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Die EU muss ihre Politik gegenüber Flüchtlingen drastisch ändern.
Die EU muss ihre Politik gegenüber Flüchtlingen drastisch ändern. © Dario Pignatelli/EU Council/dpa

Die EU muss ihre Politik gegenüber Flüchtlingen drastisch ändern. Deren Rechte werden nicht durch Deals mit der Türkei geschützt. Der Gastbeitrag.

Ich danke Griechenland dafür, dass es in diesen Zeiten unser europäisches Aspída (Schutzschild) ist.“ Befindet sich die EU im Krieg? Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man die Worte von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anlässlich der Abschottung in der Ägäis hört. Die Kommission hat damit ihren Anspruch aufgegeben „Hüterin der Verträge“ zu sein. Sonst hätte sie den Rechtsbruch an der Außengrenze nachdrücklich verurteilen müssen. Stattdessen soll ein neuer Deal mit der Türkei die Lage entschärfen. Aber mit welchen Folgen für die Flüchtenden?

Schon seit Jahren wird die Würde der Menschen in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln, die Sonderrechtszonen gleichen, systematisch verletzt. Zuletzt hat die Athener Regierung gar die Annahme von Asylanträgen ausgesetzt. Das ist unvereinbar mit Art. 18 der EU-Grundrechtecharta und der Genfer Flüchtlingskonvention, die das Asylrecht garantieren. Auch die gewaltsamen Zurückweisungen von Flüchtlingen in die Türkei sind ein klarer Verstoß gegen Europa- und Völkerrecht.

Die Unterstützer des Vorgehens der griechischen Behörden verweisen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der kürzlich unter bestimmten Voraussetzungen „heiße Abschiebungen“ an der spanisch-marokkanischen Grenze nicht als Verstoß gegen die Konvention wertete.

Die Richter in Straßburg behaupten, Schutzsuchende könnten ihre Verfahrensrechte aufgrund eines ihnen zugeschriebenen „gewaltsamen“ Verhaltens verwirken. Ein Freifahrtschein für brutale Zurückweisungen an der Grenze ist die Entscheidung aber nicht. Zumal es in der Ägäis keine legalen Einreisewege gibt, die der EGMR einfordert. Indem die EU-Kommission die Rechtsbrüche der griechischen Behörden nicht verurteilt, gibt sie die Rechtsstaatlichkeit der exekutiven Willkür preis.

Um die Situation an der griechischen Grenze zu befrieden, wird eine Neuauflage des EU-Türkei-Deals ins Spiel gebracht, einige EU-Mitgliedstaaten zeigten sich schon bereit, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Unterstützer des Deals, wie zum Beispiel sein „Vordenker“ Gerald Knaus von der European Stability Initiative, vertreten zwei Argumente: Erstens, garantiere der Deal die humane Versorgung von Flüchtlingen in Drittstaaten. Dabei wird etwa auf den verbesserten Zugang von syrischen Kindern zum Bildungssystem oder die Schaffung von Arbeitsplätzen verwiesen. Zweitens, sei der Deal alternativlos, denn die Regierungen in Europa würden angesichts einer „unkontrollierbaren“ Migration auf den Rechtskurs von Orbán schwenken. Dann sei das Ende der Flüchtlingskonvention besiegelt. Beide Argumente erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Mythen.

Maximilian Pichl
Maximilian Pichl

Wissenschaftlerinnen aus dem Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Menschenrechtsorganisationen zeichnen ein anderes Bild vom Leben der Flüchtlinge in der Türkei: Kinder, die, anstatt in die Schule zu gehen, in Textilfabriken, die den europäischen Markt beliefern, jeden Tag Knochenarbeit verrichten; Zurückgeschobene, die willkürlicher Inhaftierung ausgesetzt sind; und Schutzsuchende, die von türkischen Behörden ins Kriegsgebiet nach Syrien abgeschoben werden.

Auch das Argument, der Deal verteidige Flüchtlingsrechte gegen autoritäre Kräfte trägt nicht. Gerade die Auslagerung des Grenzschutzes an die Türkei hat für Flüchtlinge den Zugang zum Rechtsstaat versperrt. NGOs und Anwälte kämpfen seit Jahren gegen die menschenrechtswidrigen Auswirkungen der Vereinbarung.

Es ist zudem ein Trugschluss zu denken, Orbán und Co. ließen sich durch den Deal in ihre Schranken weisen, schon weil die extreme Rechte nicht nur Flüchtlinge als Feindbilder benutzt, sondern hinter jeder Ecke den „großen Bevölkerungsaustausch“ wittert. Ganz zu schweigen von den außen- und innenpolitischen Folgen des Deals in der Türkei, die Erdogans Regierung stärkten.

Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes trägt dazu bei, dass sich Gesellschaften daran gewöhnen, wenn grundlegende Rechte gebrochen werden. Dass die Zustände auf den Inseln nicht schon vor Jahren beendet und die Menschen in Europa verteilt wurden, beweist diese Annahme – denn da hatte der Deal noch Bestand.

Die angebliche Alternativlosigkeit unterschlägt, dass es in der EU solidarische Bewegungen und hunderte Städte gibt, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Es zeugt hingegen nicht von einer realistischen und verantwortungsvollen Politik davon auszugehen, man könne mit autoritären Agitatoren wie Erdogan verlässliche Abkommen schließen.

Maximilian Pichl  forscht an den Unis Kassel und Frankfurt am Main. Er ist im Vorstand des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

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