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Von: Saba-Nur Cheema

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Der identitätspolitische Kniff ist, dass man sich der gesellschaftlichen Position bewusst wird – etwa als Schwarze, lesbische Feministin – mit all den Erfahrungen und Perspektiven, die sich daraus ergeben, und sie in emanzipatorischer Absicht politisiert.
Der identitätspolitische Kniff ist, dass man sich der gesellschaftlichen Position bewusst wird – etwa als Schwarze, lesbische Feministin – mit all den Erfahrungen und Perspektiven, die sich daraus ergeben, und sie in emanzipatorischer Absicht politisiert. © Martin Schutt/dpa

Identitätspolitik darf nicht zerredet werden. Sprechen wir lieber über strukturellen Rassismus.

2021 steckt die Debatte um Identitätspolitik in einer Sackgasse. Als der Begriff identity politics in den siebziger Jahren von einem Kollektiv Schwarzer lesbischer Feministinnen in den USA geprägt wurde, ahnte niemand, dass er ein halbes Jahrhundert später in Talkshows und Feuilletons verhandelt und dem pandemiebedingt gelangweilten Publikum als Aufreger in die Timeline bei Facebook, Twitter und Instagram gespült wird. Grund zum Feiern im Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus sehen wir leider nicht.

Die Anliegen identitätspolitischer Kämpfe verflachen mit dem Einzug in die Talkshows. Zur Erörterung struktureller Ursachen von sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Gewalt kommt es meist nicht, weil Expertinnen und Experten für Rassismus oder Sexismus zum Streit über N- und Z-Wörter befragt werden müssen. Claus Kleber etwa will im „heute journal“ im Gespräch über Gendergap wissen, wer die Gedichte von Amanda Gorman ins Deutsche übersetzen darf. In einer Hochphase rechten Terrors nach Halle und Hanau, angesichts der Radikalisierung der Corona-Leugnerinnen und -Leugner und rechtsextremer Netzwerke in Polizei, Bundeswehr und Behörden ist das ein unhaltbarer Zustand.

Je mehr sich Diskriminierte Gehör verschaffen, umso stärker steht die Mehrheitsgesellschaft unter Rechtfertigungsdruck. Umso deutlicher wird, wie Teile der Mehrheit die Anliegen marginalisierter Gruppen abwehren und disqualifizieren. Hier taugt Identitätspolitik als Feindbild, um Frauen, BPOC (Black and People of Color) und Queers in ihren Forderungen verächtlich zu machen. Deshalb kommen viele, die sich für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft einsetzen wollen – und diese nicht bereits in symbolischer Anerkennung und neoliberaler Diversity der Besserverdienenden verwirklicht sehen – kaum umhin, Ideen aktivistischer Szenen zu verteidigen, die sie für politisch falsch halten. Damit verabschiedet man sich von einer innerlinken Streitkultur.

Ein falscher Schachzug des progressiven Lagers ist, Identitätspolitik zu verwässern. Eigentlich machen alle Identitätspolitik, heißt es, sobald Gruppen nur ein Anliegen verfolgen: Nazis betrieben mit ihrer rassistischen Ideologie Identitätspolitik, Graue Wölfe mit ihrem türkischen Nationalismus und die CDU, indem sie eine Leitkultur predige.

Damit erweist man dem Konzept einen Bärendienst. Der identitätspolitische Kniff ist, dass man sich der gesellschaftlichen Position bewusst wird – etwa als Schwarze, lesbische Feministin – mit all den Erfahrungen und Perspektiven, die sich daraus ergeben, und sie in emanzipatorischer Absicht politisiert.

Faschistische Gruppierungen versuchen ihr (gewaltvolles) politisches Handeln dagegen aus rassistisch begründeter Überlegenheit zu legitimieren. Nicht im Entferntesten hat dies etwas mit dem Konzept der radikalen Identität zu tun, welche das Combahee River Collective entwarf, um für einen radikal neuen Ansatz im Kampf für politische Gleichstellung zu werben.

Eva Berendsen
Eva Berendsen © Felix Schmitt

Identitätspolitik ist auch Kritik am Gleichheitsversprechen liberaler Demokratien, das für viele uneingelöst ist. Obwohl die US-Bürgerrechtsbewegung die rechtliche Gleichstellung von Schwarzen erkämpft hat, wirkt ihre strukturelle Benachteiligung bis heute. Hierzulande gilt ähnliches. Obwohl durch das Grundgesetz gleiche Chancen für alle unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Religion abgesichert sind, ist die Realität anders für jene, die nicht dem völkischen Bild von Deutschsein entsprechen.

Empirisch belegt ist, dass eine muslimische Frau mit Kopftuch sich dreimal häufiger bewerben muss als eine Sandra Bauer (ohne Kopftuch), bis sie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen ist. Hier geborene Kinder mit Migrationsgeschichte erhalten seltener Gymnasialempfehlungen als hier geborene Kinder ohne Migrationsgeschichte und machen weniger häufig einen Hochschulabschluss. Aktuell verdichten sich die Anzeichen, dass Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger an Covid-19 erkranken, weil sie häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, die ihnen keine Möglichkeit zum Homeoffice lassen oder sich vor Infektionen zu schützen.

Es ist Zeit, über diese Formen des Ausschlusses und über strukturellen Rassismus zu sprechen. Das klappt aber nicht über den so zerredeten Begriff der Identitätspolitik. Wir müssen uns trauen, die Debatte über Identitätspolitik einzufrieren. Zumindest für die Dauer einer Pandemie. (Saba-Nur Cheema und Eva Berendsen)

Saba-Nur Cheema ist pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank (BAF).

Eva Berendsen leitet die Abteilung Kommunikation der Bildungsstätte Anne Frank. Beide sind Co-Herausgeberinnen des Sammelbands „Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“ (Verbrecher Verlag 2019

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