Moralische Instanz
Auch und gerade an Weihnachten muss sich die katholische Kirche mit dem Missbrauchsskandal beschäftigen. Eine Selbstreinigung ist ohne ehrliche Bekenntnisse nicht möglich.
Schwere Zeiten für Weihnachtsprediger: Zwei ihrer zentralen Begriffe – Kind und Krippe – sind kontaminiert, das Gift des sexuellen Missbrauchs vergällt die geistliche Rhetorik an Heiligabend. Wer kann in diesem Jahr vom Gotteskind hören, ohne an das zu denken, was Priester und Ordensleute Menschenkindern angetan haben? Viele Pfarrer und Bischöfe werden sich trotzdem scheuen, darüber erneut zu sprechen. Sie werden sich auf die Bedürfnisse gerade jener Gläubigen berufen, die sonst selten oder gar nicht zur Kirche kommen. Für sie sind „Stille Nacht“ und die Geschichte vom Stall zu Bethlehem Teil eines Rituals, Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Geborgenheit und Harmonie. Der Missklang des Missbrauchs-Skandals steht hierzu im denkbar schrillsten Kontrast. Er stört das weihnachtliche Idyll.
Eine Zumutung ist das, gewiss. Aber eine notwendige. Schließlich pocht speziell der Katholizismus auf eine im Wortsinn körperliche Identität zwischen geistlichem Amt und geistlicher Botschaft. „Wer euch berührt, berührt Christus“, pflegte etwa der Kölner Kardinal Joachim Meisner bei der Weihe von Neupriestern zu predigen. Dieser ungeheure Anspruch schlägt um in ungeheuerliche Perversion, sobald man damit die „Berührung“ missbrauchter Kinder und Jugendlicher durch Geistliche assoziiert. Meisner scheint dies übrigens sehr genau verstanden zu haben. Sonst um kernige Sprüche in der Attacke auf Kirchenkritiker nie verlegen, hat sich der Kölner Erzbischof im Missbrauchsskandal auffallend bedeckt gehalten. Er weiß: Hier geht es nicht darum, die Kirche gegen äußerliche Angriffe zu verteidigen. Vielmehr hat sich die Kirche von innen her desavouiert.
Wenige Tage vor Weihnachten – gewissermaßen auf dem Weg nach Bethlehem – hat Papst Benedikt XVI. die Selbstreinigung von innen propagiert. Die Kirche müsse überlegen, „was falsch war an unserer Botschaft“. Zur Erneuerung gehört der Verzicht auf Schönfärberei und Eiapopeia – auch in den Weihnachtsgottesdiensten. Wo Klerus und Kirchenvolk einander in einer Zahl begegnen, wie sonst das ganze Jahr nicht, kommt es darauf an, sich ehrlich zu machen. Hier gilt, was der Protestant Dietrich Bonhoeffer in den 1930er Jahren unter ganz anderen Vorzeichen formuliert hat: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Nur wer für die missbrauchten Kinder sorgt, darf vom Jesus-Kind in der Krippe reden.
Ohne soziale Verantwortung – das wird aus Bonhoeffers Worten deutlich – verkommt das Christentum zum frömmelnden Ästhetizismus. Auch dafür mag es eine Klientel geben. Die Mehrheit aber der 50 Millionen Christen in Deutschland gehört sicher nicht dazu. Für deren Verbleib in der Kirche sind drei Faktoren entscheidend: der karitative und pädagogische Dienst der Kirche; der Anspruch an die Kirche als Wertevermittlerin und „moralische Instanz“; und schließlich – oft unbestimmt und diffus – die Ahnung einer Realität jenseits der irdischen Gewissheiten. Im Leben jedes Menschen gibt es ur-religiöse Erfahrungen. Was es mit dem „Berührtwerden vom Heiligen“ auf sich haben könnte, das verstehen die meisten Eltern sehr gut, wenn ihr Kind zur Welt kommt. Nicht zuletzt deshalb ist die – an sich sperrige – Botschaft von der „Menschwerdung Gottes“ für viele Hörer so eingängig. Weihnachten ist ein Beleg für die Unausrottbarkeit des Religiösen.
Auch der säkulare Staat tut gut daran, das anzuerkennen. Es wirkt am Ende nicht befreiend, sondern belastend, das Religiöse aggressiv aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, weil damit beachtliche Teile der Gesellschaft in wesentlichen Lebensvollzügen eingeschränkt oder behindert werden. Eine gedeihliche Auseinandersetzung mit dem Islam wird so unmöglich sein. Jedenfalls sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass strikte Laizität die Probleme besser in den Griff bekäme, die sich aus dem politischen Anspruch des Islam ergeben. Christentum und säkularer Staat sind historisch zu einer Trennung gelangt, die nicht ausschließt, sondern einbindet. Das kann ein Modell sein für ähnliche Entwicklungen im Islam. Für den Dialog hierüber sind Christen besonders geeignete Partner. Als Gläubige wissen und verstehen sie, was Muslime meinen, wenn sie von Gott und seiner Wirklichkeit reden.
Wie glaubwürdig die Kirchen ihrerseits das tun, das entscheidet sich auch an ihrer Haltung zum Missbrauchsskandal – nicht nur in den Weihnachtspredigten des Jahres 2010.