Wahl in der Türkei: Mit allen Mitteln

Erdogan und Kiliçdaroglu sollten den Wahlkampf um die Präsidentschaft fair zu Ende bringen. Leitartikel von Yağmur Ekim Çay.
Keiner der Kandidaten hat bei der Prädidentschaftswahl in der Türkei im ersten Wahlgang die 50-Prozent-Hürde genommen. Am 28. Mai wird es deshalb eine Stichwahl zwischen Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kiliçdaroglu geben. Vor allem Kiliçdaroglu hat es schwer. In den nächsten zwei Wochen werden er und seine CHP-Partei zulegen müssen, um doch noch den Amtsinhaber zu schlagen. Aber auch auf Erdogan warten schwierige Wochen.
Eigentlich hatte Kiliçdaroglu den Wahlkampf sehr überzeugend begonnen. Es gelang ihm, die Unterstützung eines breiten Bündnisses zu erhalten, das unter anderem eine rechtsextreme Partei mit der prokurdischen HDP zusammenbrachte. Sein Wahlkampf verlief sehr „hoffnungsvoll“, im Vergleich zu Erdogan wirkte er fit und motiviert.
Trotz der Angriffe aus den Reihen der AKP ist es ihm gelungen, die positive Stimmung aufrechtzuerhalten und den Wähler:innen einen „Frühling“ zu versprechen. Er hat im Land eine Hoffnungswelle geschaffen, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hat. Zum ersten Mal konnten viele ihre Unterstützung für einen Erdogan-Gegner so lautstark aussprechen. Ein Tabu wurde gebrochen. Es machte Erdogan Angst; so sehr, dass er in den letzten Tagen des Wahlkampfes versuchte, einen demokratischen Eindruck zu machen – denn er und seine Partei wussten, dass sie verlieren könnten. Das machte Hoffnung.
Gerade aus dieser Welle der Hoffnung heraus ist es der Opposition auch gelungen, die Zivilgesellschaft an die Wahlurnen zu organisieren. Es gab deutlich weniger Manipulationsversuche während der Wahl: Das zeigt einmal mehr, dass Kiliçdaroglus sicheres Auftreten und die hohe Motivation seiner Anhängerschaft die AKP verschreckt hat, aber auch über 100 000 Wahlbeobachter:innen die AKP gehindert haben, die Wahlen zu manipulieren.
Es zeigt auch, dass in der Türkei mit der organisierten Zivilgesellschaft sichere Wahlen möglich sind. Wenn Kiliçdaroglu in der zweiten Runde gewinnen will, sollte sich daran in den nächsten zwei Wochen nichts ändern. Es braucht weiterhin Einigkeit bei den Oppositionsparteien und die Hoffnung, dass Erdogan verliert– gegen Kiliçdaroglu.
Doch Kiliçdaroglu und seine Partei wiederholten einen strategischen Fehler, den sie bereits 2018 begangen hatten – sie kommunizierten den Wähler:innen am Sonntagabend und am Montag schlecht, was vor sich ging. Die konnten keine Endzahlen nennen, außer zu sagen, dass die staatliche Agentur die Zahlen manipuliert habe.
Der starke Kiliçdaroglu und die starke CHP der vergangenen Wochen, die stark auftraten und Hoffnung verbreiteten, fehlten. Kiliçdaroglu und seine Parteikolleg:innen schienen am Sontagabend demotiviert und die Niederlage akzeptiert zu haben – dieser unsichere Auftritt wird in den nächsten zwei Wochen seine größte Herausforderung sein. Denn seine Wählerschaft droht die Hoffnung auf einen Wahlsieg zu verlieren. Es heißt für ihn nun, es wieder besser machen zu müssen und wieder für die Motivation zu sorgen, wenn er gewinnen will.
Trotz des Erdbebens und der Wirtschaftskrise ist Erdogan, wenn auch etwas weniger als früher, immer noch sehr beliebt. Kiliçdaroglu wird diese Wählerinnen und Wähler für die Stichwahl nicht mehr für sich gewinnen können. Aber er muss versuchen, zusätzliche Stimmen auf seine Seite zu ziehen – unter anderem möglichst viele von den drei Millionen Stimmen der beiden anderen Kandidaten Sinan Ogan und Muharrem Ince. Doch auf diese Wählerklientel hat es auch Erdogan abgesehen. Er muss wegen seines Vorsprungs allerdings nicht so viel zulegen wie sein Herausforderer. Dafür muss er seine Strategie verändern.
Aber auch das wird nicht einfach sein: Die nächsten zwei Wochen können angespannter werden – so wie die Zeit zwischen den Wahlen am 7. Juni 2015 und dem 1. November 2015, in der es mehrere Anschläge, Verhaftungen und Chaos im Land gab. Das kann nun wieder die Strategie der AKP werden, denn Erdogan wird alles tun, um nicht zu verlieren.
Der 28. Mai, der Tag der Stichwahl, ist ein historischer Tag. An diesem Tag jähren sich die Gezi-Proteste zum zehnten Mal – eine Bewegung, die zum ersten Mal die gesamte Opposition zusammenbrachte und Erdogan besiegte – im Gezi-Park. Kiliçdaroglu hat den ähnlichen Auftrag und muss nun zu seiner Wählerschaft vom Wochenende noch zusätzliche Menschen für sich begeistern – von einem Frühling.