Israel kritisieren, um Israel zu schützen

Kanzler Olaf Scholz muss deutliche Kritik am antidemokratischen Kurs der Regierung Netanjahu üben, denn sie bedroht Israels Sicherheit. Der Leitartikel.
Es gibt einfachere Tage im Leben eines Olaf Scholz. Wenn der Bundeskanzler an diesem Donnerstag Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu empfängt, dann kommt das Treffen zu einer Zeit, da Israel an der Kippe steht, von einem Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat abzugleiten.
Die Verantwortung für diesen drohenden Umsturz trägt Netanjahu. Er hat nicht nur die gemäßigten Kräfte aus seiner eigenen Partei verscheucht, sondern auch zwei rechtsextreme Parteien, die in Deutschland wohl außerhalb des Verfassungsbogens stehen würden, groß gemacht und in die Regierung geholt. Diese rechtsextremen Parteien sind fest entschlossen, alles, was in den 75 Jahren seit der Staatsgründung Israels an demokratischen Strukturen aufgebaut wurde, in atemberaubendem Tempo zu zerschlagen. Die Protestbewegung, die nun versucht, mit vereinten Kräften diesen Zersetzungsprozess zu stoppen, wird immer größer. Wie man am Mittwoch sehen konnte, hat sie längst Deutschland erfasst.
Scholz trifft Netanjahu: Leere Phrasen sind nicht angebracht
Aller Augen sind nun auf den Kanzler gerichtet. Jedes einzelne Wort, das Olaf Scholz bei der gemeinsamen Pressekonferenz der beiden Regierungschefs äußert, wird von Millionen Zusehenden abgewogen und zerpflückt werden. Jede Kritik wird von der einen Seite als zu sachte, von der anderen als unzulässige Einmischung in innerisraelische Angelegenheiten verurteilt werden.
In einer solchen Situation ist es verlockend, sich mit unverbindlichen Phrasen durchzumogeln. Das Problem, wie sich Deutschland diesem neuen Israel gegenüber verhalten soll, wird aber so nicht gelöst, im Gegenteil. Je länger sich Berlin einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Frage verschließt, wo im Umgang mit Israel die roten Linien liegen, desto größer ist das Risiko für diplomatische Spannungen.
Netanjahu in Berlin: Es geht um Deutschlands Glaubwürdigkeit
Wenn Scholz nicht heute Klartext spricht, dann werden die scharfen Worte, die es früher oder später geben muss, wenn von den israelischen Grundrechtsverletzungen auch deutsche Staatsbürger:innen oder Einrichtungen betroffen sein werden, weniger wirksam sein.
Es geht aber auch um Deutschlands Glaubwürdigkeit. Wenn der Kanzler nur einmal mehr betont, dass Israels Sicherheit Deutschlands Staatsräson ist, dann muss er das Pulverfass, auf dem Israels Demokratie heute sitzt, als das benennen, was es ist. Wenn Israels Sicherheit der Bundesregierung wirklich am Herzen liegt, dann kann sie nicht ignorieren, dass Netanjahus Regierung an der gezielten Schwächung der Palästinenserbehörde arbeitet und auf dem Weg ist, das Westjordanland und damit auch Israel ins Chaos zu stürzen. Und wenn Deutschlands Außenpolitik tatsächlich auf Werten beruht, dann muss man sich fragen, wie lange Berlin noch die Augen zudrücken kann, wenn im Westjordanland im Tagesrhythmus Völkerrecht gebrochen wird. Zumal man Völkerrechtsverstöße und Kriegsverbrechen im Falle Russlands – zu Recht – scharf kritisiert.
Netanjahu will ablenken: Er spricht lieber über den Iran
Netanjahu ist nach Berlin gereist mit dem festen Entschluss, das zu tun, was er immer tut: das Gespräch auf das Thema Iran zu lenken. Ein gemeinsamer Feind ist das beste Mittel, um bilaterale Differenzen zu überbrücken – zumal das Thema Teheran angesichts der iranischen Hilfe für Putin-Russland auch weit oben auf der Agenda der Bundesregierung steht. Wenn Scholz es zulässt, dass dabei der Umbau der israelischen Demokratie zu kurz kommt, tut er damit seinem Gast einen Gefallen, nicht aber den israelischen Bürger:innen. Laut Umfragen lehnen sie die geplanten Einschnitte mehrheitlich ab.
Netanjahus rechts-religiöse Koalition ist jedoch unbeirrbar. Ihr geht es darum, sich mit demokratischen Mitteln uneingeschränkte Macht im Staat zu verschaffen. Nichts kann sie beeindrucken: Nicht die erbitterten Appelle von Staatspräsident Itzchak Herzog, die Regierung möge dem Land „diesen Alptraum“ ersparen. Nicht die Androhung Hunderter Reservisten von Eliteeinheiten der Armee, im Ernstfall den Dienst zu verweigern. Auch nicht die vielen Warnungen von Ökonom:innen vor schweren wirtschaftlichen Einbußen, sollte die Regierung den Rechtsstaat lähmen.
Netanjahus rechte Koalition hat ihren Anschlag auf die Demokratie schon gestartet
Die Koalition hat mit ihrem antidemokratischen Feldzug gegen bereits begonnen. Die gefährlichsten Punkte der sogenannten Justizreform – ein Euphemismus der rechtsreligiösen Regierung für die Ausschaltung der Gewaltentrennung – sind bereits in erster Lesung im Parlament beschlossen worden. Die Regierung gibt sich selbst die Macht, Grundrechte außer Kraft zu setzen. Das betrifft zuallererst die Minderheiten, letztlich aber alle – im Übrigen auch deutsche Investoren. Das alles gilt es zu bedenken, wenn Scholz Netanjahu trifft.