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Corona: Wir brauchen Masken, Abstände – und Ehrlichkeit

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Von: Michael Bayer

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Es war unklug war, die kostenlosen Tests abzuschaffen.
Es war unklug, die kostenlosen Tests abzuschaffen. © Daniel Vogl/dpa

Die Wirksamkeit der Impfungen gegen Corona lässt nach. Bund und Länder müssen reagieren. Der Leitartikel.

Deutschland steht in der Corona-Pandemie vor einer grundlegenden Wende. Immer öfter infizieren sich Menschen, obwohl sie geimpft sind. Das Robert-Koch-Institut hat in seinem jüngsten Wochenbericht (PDF) eine Schätzung veröffentlicht. Demnach liegt die Impfeffektivität in den vergangenen Wochen noch bei 73 Prozent – eine besorgniserregende Quote, die zugleich die Dringlichkeit der dritten Auffrischimpfung unterstreicht.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nach wie vor verhindern die Vakzine sehr gut, dass Infizierte ins Krankenhaus müssen oder an Covid sterben. Und natürlich stecken sich Ungeimpfte immer deutlich öfter an als Gepikste. Dennoch ändert das die Ausgangslage – und die Möglichkeiten, zu reagieren.

2G schützt nicht vollständig gegen Corona

Denn nun sind Treffen unter 3G- oder 2G-Bedingungen keine risikoarmen Veranstaltungen mehr. Bisher herrscht dieser Eindruck noch vor; von Abstand oder Masken ist oft wenig zu sehen. Genau das wird nun besonders gefährlich. Wer geimpft ist, wird dank der milden Verläufe eine Infektion möglicherweise zunächst nicht bemerken – und bei unvorsichtigem Verhalten andere anstecken. Bei 3G vielleicht direkt während der Veranstaltung, bei 2G eben danach.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es Ungeimpfte trifft, ist hoch. Hier sind folgenschwere Fälle zu erwarten, die das Gesundheitssystem besonders belasten. Aber auch Geimpfte stecken sich ja nun vermehrt an. Das kann ebenfalls gravierende Folgen haben. Denn aktuell müssen gepikste Menschen häufig keine Tests vorlegen, wenn sie beispielsweise zu Besuch in Alten- und Pflegeheimen gehen – der Impfpass reicht.

Corona-Impfungen: falsche Versprechungen und Signale

Ausgangspunkt dieser Missverständnisse sind falsche Versprechungen und Signale der Politik. Als das Impfen losging, entstand der Eindruck, mit den Spritzen werde alles wie vor Corona. Keine Ansteckungen mehr, keine Einschränkungen. Es war eine Falle: Erst naiv hoffnungsgetrieben, dann im verzweifelten Bemühen, das Impfen attraktiv zu machen, entstanden überzogene Erwartungen.

Die kurze sommerliche Erholung verleitete Bund und Länder zu weiteren Schritten, die unterschwellig suggerierten: Das Coronavirus wird schon nicht mehr so schlimm wüten. Das falsche Ende der kostenlosen Bürgertests gehört genauso dazu wie die verkündete Abschaffung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite. So juristisch naheliegend dieser offenkundige Erfolg der FDP in den Ampel-Verhandlungen sein mag – wahrgenommen wurde er oft als Freedom Day. Alles vorbei.

Und dann ist da die Idee, über die steigende Zahl der Neuinfektionen einfach hinwegzusehen. Stattdessen schauen wir vor allem auf die Auslastung der Intensivstationen – eine Kennzahl nicht am Anfang, sondern fast am Ende des Krankheitsverlaufs. Entsprechend wenig Zeit bleibt zum Reagieren.

Corona: mehr Infektionen, mehr Kranke auf Intensivstationen, mehr Tote als vor einem Jahr

Das Ergebnis fasst die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek wie folgt zusammen (PDF): Wir haben aktuell mehr Neuinfektionen als vor einem Jahr. Wir haben aufgrund der vorangegangen Wellen mehr Kranke auf Intensivstationen – und mehr Tote.

Dazu kommt: Es stehen weniger Betten bereit, weil Krankenschwestern und Pfleger ihre Arbeit nicht mehr ertragen und sich einen anderen Job suchen. Die Hospitale bereiten sich bereits darauf vor, ihren Betrieb einzuschränken, also andere Behandlungen verschieben. Es ist an der Zeit gegenzusteuern. Es ist Zeit für Klartext und neue Einsichten.

Corona: ein Drei-Punkte-Plan für die Ampel-Koalition

Erstens brauchen wir mehr Ehrlichkeit. Politik und Wissenschaft dürfen keine Dinge versprechen, die sich nicht halten lassen. Klar ist ein genereller weiterer Lockdown aktuell wenig wahrscheinlich. Allerdings weiß niemand, welche Mutationen mit welcher Ansteckungsgefahr das Coronavirus noch entwickelt. Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass Masken, Abstände, Lüften und so wenig Kontakte wie möglich die nächsten Monate bestimmen müssen – unabhängig vom Impfstatus.

Zweitens: Dass es unklug war, die kostenlosen Tests abzuschaffen - diese Erkenntnis wächst immerhin. Eigentlich sollte der Schritt die Impfmotivation steigern. Das gelang kaum. Stattdessen sank die Zahl der Checks massiv, in Nordrhein-Westfalen auf ein Zehntel. Mit der Folge, dass Infektionen unbemerkt bleiben und das Ansteckungsrisiko steigt. Tests müssen wieder Alltag werden – und zwar für Geimpfte wie Nicht-Geimpfte. Übrigens auch in Schulen, wo Jugendliche mit Piks oft automatisch keine Prüfsets erhalten.

Drittens müssen die Gesundheitsbehörden die Booster-Impfung aktiv voranbringen, um die Wirksamkeit der Kampagne wieder zu steigern. Ein amtlicher Brief wäre ein Ansatz; die Adressen müssten vorliegen. Erneut könnten Impfzentren helfen. Und eine Aufgabe für die Wissenschaft wäre mehr darüber zu erforschen, unter welchen Voraussetzungen die Wirkung nachlässt. Die sechs Monate sind nur ein grober Durchschnittswert.

All das duldet keinen Aufschub. Eine erste Bewährungsprobe für die Ampel-Parteien. (Michael Bayer)

Corona: Die Impfeffektivität lässt nach

Transparenzhinweis: In einer ersten Fassung haben wir geschrieben, Impfdurchbrüche beträfen eine oder einen von vier Geimpften. Das ist falsch. Die Impfeffektivität ist anders definiert. Dazu ein hypothetisches Szenario. In einer Gegend treten 20 Fälle je 1000 Personen auf. Würde ein Teil der Menschen geimpft, erkrankten weiter 20 von 1000 Ungeimpften – aber nur fünf von 1000 Geimpften. Kommt also eine geimpfte Person mit dem Erreger in Kontakt, wird sie weniger wahrscheinlich erkranken als eine ungeimpfte Person.

In realen Zahlen bezogen auf das Bundesgebiet heißt das für die 40. bis 43. Kalenderwoche: Der Anteil Infizierter an der geimpften Bevölkerung über 18 Jahre ist im Vergleich zu dem Anteil Infizierter an der ungeimpften Bevölkerungsgruppe um 73 Prozent geringer, in der 41. bis 44. Kalenderwoche um 72 Prozent. Für den Gesamtzeitraum seit der vierten Kalenderwoche liegt dieser Wert je nach Alter zwischen 80 und 82 Prozent. Das lässt die insgesamt nachlassende Impfwirkung gegen eine Infektion in der Bevölkerung erkennen.

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