Yahya Ayoubi stirbt auf der Flucht – Griechenland klagt den Vater an

Der Vater des auf der Flucht gestorbenen Yahya Ayoubi wird wegen Kindswohlgefährdung angeklagt. Er ist der Falsche. Ein FR-Standpunkt.
- Griechenland klagt einen Mann an, dessen Sohn bei der Flucht im Mittelmeer sein Leben verlor.
- Dabei trifft die Anklage den Falschen.
- Derweil geht das Sterben im Mittelmeer weiter, wie vor fünf Jahren schon.
Samos – Es gibt kein Bild von Yahya Ayoubi. Keines von seinem leblosen Körper an einem Strand der griechischen Insel Samos. Es gibt kein Bild, das wir in Händen halten. Doch das heißt nicht, dass wir es nicht sehen können.
Yahya Ayoubi wurde sechs Jahre alt. Sein Vater Nadir ist 25. Die griechischen Behörden klagen ihn an: Er habe das Kindeswohl gefährdet. Es ist das erste Mal, dass die griechische Justiz ein solches Verfahren anstrengt.
Nadirs Verbrechen war dass er auf der Flucht war
Nadir erwartet eine Haftstrafe, sechs Jahre, vielleicht zehn. Nicht etwa, weil er seinen Sohn mit auf eine vergnügliche, aber etwas waghalsige Kanufahrt genommen hätte. Sein Verbrechen bestand darin, gemeinsam mit 22 weiteren Geflüchteten in der Nacht des 8. November irgendwo an der türkischen Küste in ein Boot zu steigen, seinen Sohn Yahya an der Hand. In der Hoffnung, es nach Europa zu schaffen, nach Griechenland, trotz Sturm, trotz starken Seegangs. Yahya schaffte es nicht. Man fand ihn am nächsten Morgen, tot.
„Als Sie das Foto des kleinen Jungen sahen, das Bild meines lieben Neffen Alan, gestorben an einem Strand in der Ferne, wurden Sie Teil unserer Familie. Jetzt teilen Sie unseren Schrecken, unseren Herzschmerz, unseren Schock, unsere Wut.“ Das schreibt Tima Kurdi in ihrem Buch „Der Junge am Strand“, das jetzt erschien. Es gibt dieses Bild von Alan Kurdi, es entstand im September 2015, es ging um die Welt. Ein kleiner lebloser Körper, von Wellen umspült. Alan Kurdi war zwei Jahre alt, als er starb. Auf der Flucht aus der Türkei Richtung Griechenland. Wie Yahya. Alans Vater, Abdullah Kurdi, überlebte. Wie Nadir Ayoubi.
Die Tragödie des Sterbens im Mittelmeer ist nicht vorbei
Damals hieß es, das Foto des toten Alan Kurdi zeige die größte humanitäre Tragödie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist nicht vorbei, immer noch nicht. Aber was tut Europa, statt sie zu beenden? Es klagt einen verzweifelten Vater an.
Nadir Ayoubi, geboren in Afghanistan, aufgewachsen als Halbwaise im Iran, später kam er in die Türkei, illegal, Asylantrag abgelehnt. Er heiratete, wurde Vater. Die türkischen Behörden drohten mit der Abschiebung „zurück“ nach Afghanistan. Da traf Nadir Ayoubi eine Entscheidung. „Was bringt Menschen dazu, diese verwegene Passage zu wagen, das eigene Leben und das ihrer Kinder zu riskieren?“, fragt Tima Kurdi. „Vermutlich kann man das nur verstehen, wenn man selbst auf der Flucht war.“
Wir in Europa verstehen Flucht als Angriff
Was verstehen wir, die das Leben nie zwang zu fliehen? „Unsere Nachricht ist klar: Kommt nicht illegal nach Griechenland, versucht es nicht.“ Diesen Satz sprach der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis. Wir verstehen ihn als Drohung, zu Recht. Aber nicht gegen uns. Mitsotakis versteht, dass er den Rückhalt Europas hat. Denn sein Land ist „der europäische Schild“, so hat es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesagt. Ein Schild. Eine Schutzwaffe, die der Abwehr von Nahkampfangriffen dient. So verstehen wir Flucht. Als einen Nahkampfangriff.
Als das Boot mit Nadir und Yahya Ayoubi in Seenot geriet, riefen sie die norwegische Hilfsorganisation „Aegean Boat Report“ an. Sie informierte die griechische Küstenwache, die lange auf sich warten ließ; anderthalb, zwei Stunden lang geschah nichts. Dann war es zu spät, das Boot sank. Die Küstenwache muss sich nicht erklären. Sie hat nichts zu befürchten; kein Staat klagt sie an. Handelt sie doch im Sinne Europas. Nadir Ayoubi tat das nicht.
Europa lädt Geflüchtete nur zur Umkehr ein
Auch Fabrice Leggeri handelt im Sinne Europas. Er ist Direktor der Grenzschutzagentur Frontex, ausgestattet mit einem Budget von elf Milliarden Euro. Für Flugzeuge, Hubschrauber, Patrouillenboote, Wärmebildkameras. Ein gigantischer europäischer Schild.
Mit dem Vorwurf illegaler Pushbacks in der Ägäis konfrontiert, erklärte Leggeri jetzt vor dem Innenausschuss des Europaparlaments: Bestehe der Verdacht des Menschenschmuggels, bestehe für Frontex der EU-Verordnung zufolge die Möglichkeit, das betreffende Boot „abzufangen“. Dieses könne dann auf Geheiß des jeweiligen „Gastlandes“ der Frontex-Operation – in diesem Fall Griechenland – „sagen wir mal eingeladen werden, seinen Kurs zu ändern“. Sagen wir mal: Wenn Europa Geflüchtete einlädt, dann nur zum Umkehren, egal wie. So ist das zu verstehen.
Schmerz und Wut sind dieselben wie vor fünf Jahren
„2020 ist nicht 2015“, sagte Kanzlerin Angela Merkel. Die Bürgerinnen und Bürger könnten erwarten, dass es der Politik gelinge, Flucht und Migration „zu ordnen, zu steuern und zu verringern“. Yahyas Körper lag am Strand der griechischen Insel Samos. Dort, im Flüchtlingslager Vathy, geplant für kaum 700 Menschen, leben Tausende, auch Tausende Kinder, in Kälte und Dreck. Ohne fließendes Wasser, ohne feste Behausung, ohne Perspektive. Eines von ihnen wäre wohl Yahya Ayoubi gewesen, hätte jemand das Boot, in dem er saß, gerettet.
„Jetzt teilen Sie unseren Schrecken, unseren Herzschmerz, unseren Schock, unsere Wut“, schreibt Tima Kurdi. Es gibt ein Bild von Yahya Ayoubi. Es ist in unseren Köpfen. Angela Merkel irrt: Dieser Schrecken, dieser Schmerz und diese Wut sind dieselbe wie vor fünf Jahren. (Tanja Kokoska)