Unwürdiges Schauspiel im Bundestag: Nach Selenskyjs flammendem Appell herrscht peinliche Stille
Wolodymyr Selenskyj wendet sich mit einer ergreifenden Rede an den Bundestag. Der Sternstunde folgt der Absturz in einen schwarzen Moment des deutschen Parlamentarismus. Der Leitartikel.
Wolodymyr Selenskyj ist ein großer Redner. Bei seinem Auftritt vor dem US-Kongress beschwor er die Bombardierung von Pearl Harbour und baute auf diesem Trauma das Verständnis für seine Bitte um Hilfe für sein Land in Flammen auf. Auch die Deutschen packte er bei ihrer tiefsten Trennungserfahrung: „Sie befinden sich gerade wieder hinter einer Mauer und mit jeder Bombe, die fällt, wird sie stärker.“ In eindringlichen Worten baute er das Bild aus – etwa indem er Nord Stream 2 als Zement für diese neue Mauer verglich – und machte so das ukrainische Ohnmachtsgefühl für alle im Raum spürbar.
Minutenlanger Beifall folgte seinem Wunsch, dass sich die Deutschen im Rückblick „nicht schämen“ müssten, wenn sie der „historischen Verantwortung“ angesichts der Invasion von Wladimir Putin in die Ukraine nicht gerecht würden. Was die richtige Reaktion, was die beste Unterstützung ist, genau das ist zur Stunde offen und verlangt nach einer sorgfältig abgewogenen klugen Diskussion.
Auf Selenskyjs Rede folgt eine schwarze Stunde im Bundestag
Doch was folgte, war eine schwarze Stunde des deutschen Parlamentarismus. Die Unionsfraktion vergriff sich unfassbar im Ton, der Kanzler blieb sprachlos und die Ampel-Fraktionen verhedderten sich in einer unwürdigen Geschäftsführungsdebatte. Hätte Selenskyj das Wort „schämen“ nicht gerade in einen weltpolitischen Zusammenhang gehoben – für dieses Verhalten des Parlaments bliebe nur die Hinterhofbedeutung dieses Worts – man konnte es nicht mehr mit ansehen.

In den vergangenen Tagen wurde der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk oftmals angegriffen, weil er sich angesichts des Todes in seinem Land im Ton vergriffen habe – niemand aus diesem Bundestag hat nach diesem unwürdigen Schauspiel nun noch das Recht das Wort „Stil“ gegenüber der Ukraine auch nur in den Mund zu nehmen.
Trauerspiel im Bundestag: Wie kann man nach so einer Rede schweigen?
Parlamentspräsidentin Katrin Göring-Eckardt hatte in klaren und eindringlichen Worten Wolodymyr Selenskyj begrüßt. Ihren Aufruf „Dieser Krieg muss beendet werden“ entwertete und überlagerte sie selbst durch die ersten Worte, die sie nach der aufwühlenden Rede des ukrainischen Präsidenten sprach – sie ging zur Tagesordnung über und gratulierte zwei Abgeordneten zum runden Geburtstag.
Olaf Scholz ließ diesen Moment hinter seiner schwarzen Maske vorübergehen. Wie kann man nach so einer Rede schweigen? Wie kann man diese aufwühlenden Worte unkommentiert lassen? Wie kann man den ukrainischen Präsidenten, dem man angesichts einer nuklearen Drohung nicht weitreichend helfen darf, ohne Worte der Tröstung und des Beistands gehen lassen? Wie kann man den Bundestag und die Menschen des eigenen Landes ohne Einordnung der Situation und Klarheit der Regierungsperspektive lassen?
Wenn du geredet hättest, OIaf Scholz, hätte ich dich für einen Kanzler gehalten.
Es kommt noch schlimmer: Friedrich Merz verhält sich wie ein Kirmesboxer
Es ist das gute Recht der Opposition auf dieses Unvermögen hinzuweisen und eine Stellungnahme einzufordern. Doch wie Friedrich Merz darauf reagiert hat, zerstört den Glauben an alle seine Worte, dass die Union an der Seite der Regierung bei der Bewältigung der Bedrohung durch Putins Ukraine-Krieg steht. Merz verhält sich wie ein Kirmesboxer. Wenn er sieht, dass der Gegner die Deckung fallen lässt, schlägt er hart und unbarmherzig zu. Nun befinden wir uns aber in der schwersten Krise der europäischen Sicherheitsordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nicht auf dem Jahrmarkt - und da braucht es etwas anderes als parteipolitische Ranküne.
Der mächtigste Mann der Union, CDU-Vorsitzender, Fraktionsvorsitzender und vernetzter Strippenzieher, konnte sich im Vorfeld nicht mit seiner Bitte um eine Aussprache durchsetzen - und so trat er lieber auf offener Bühne nach als eine demokratische Abweisung hinzunehmen. Der Chef der größten Oppositionspartei wollte Scholz in diesem sensiblen Moment vorführen und schoss damit dennoch ein veritables Eigentor.
Fraktionsspitzen im Bundestag – unvorbereitet, hilflos, unwürdig
Ebenso erschütternd war jedoch, wie unvorbereitet, hilflos und unwürdig die Spitzen der Fraktionen auf die von Friedrich Merz erzwungene Debatte reagierten. Man müsse die Worte Selenskyjs „einfach auf sich wirken lassen“ meinte etwa die Grüne Britta Haßelman in einer Unbedarftheit, die nur Kopfschütteln erzeugen kann. Katja Mast von der SPD verstrickte sich gar in Regularien und Formalismen. Und Christian Dürr von der FDP ritt zum persönlichen Gegenangriff auf Friedrich Merz. Vielleicht brachte es Jan Korte von den Linken auf den Punkt, als er anmerkte „Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht nach 100 Tagen schon so arrogant sind, wie andere nach 16 Jahren.“
Und so stimmte der Bundestag darüber ab, ob er diskutieren soll, statt zu diskutieren. Im Angesicht der unmittelbaren Bedrohung an der Nato-Grenze wäre Einigkeit und Geschlossenheit und Unterstützung nötig. Nach dieser Rede wäre Menschlichkeit, Mitgefühl und Motivation für die kräftezehrenden Folgen der Sanktionen gefragt – und nicht kaltes Polit-Kalkül. Egal, wie oft die Union dies in Zukunft noch betonen mag, sie hat bewiesen, dass sie bei erster Gelegenheit einen innenpolitischen Scherbenhaufen für die eigene Profilierung in Kauf nimmt. (Thomas Kaspar)