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Putins westliche Geisel: Worum es wirklich im Ukraine-Krieg geht

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Von: Viktor Funk

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EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Ukraines Präsident Selenskyj: der Westen muss seine Sanktionsstrategie ändern.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Ukraines Präsident Selenskyj: Der Westen muss seine Sanktionsstrategie ändern. © Adam Schreck/dpa

Die EU hat sich zur Geisel Putins gemacht – wegen falscher Hoffnung und zögerlichen Reaktionen. Wird Zeit, das zu ändern - der Leitartikel.

Die ukrainische, bis zum 23. Februar blühende Hafenstadt Mariupol ist in russischer Hand. Russische Truppen haben dort eine nicht abschätzbare Zahl von Menschen ermordet. In den Vororten von Kiew werden ganze Familien gefunden, hingerichtet von der russischen Besatzungsmacht. Und jetzt gibt es den Verdacht, dass das russische Militär ein chemisches Kampfmittel in Mariupol eingesetzt hat.

Die Diskussion in Deutschland darüber, ob mit Chemiewaffen eine rote Linie überschritten wird, verwundert. Denn Moskau überschreitet spätestens seit dem 24. Februar quasi täglich rote Linien. Die Brutalität, mit der russische Truppen im Ukraine-Krieg vorgehen, sind auf den entsprechenden Telegram- oder Twitter-Kanälen leicht zu finden. Und nur schwer zu ertragen.

Ukraine-Krieg: Die EU ist Geisel einer falschen Hoffnung

Es sind Verbrechen an einem Land, das Russland nie bedroht hat; es sind Verbrechen an einer Zivilbevölkerung, von der mehr als ein Viertel Verwandte in Russland hat; es sind Verbrechen an Menschen, die sich getraut haben, aus dem Untertanentum auszubrechen und für Selbstbestimmung zu kämpfen. Aber der Westen traut sich nicht, entschiedener gegen den Unterdrücker dieser Menschen vorzugehen.

Die EU, allen voran Deutschland, ist Geisel einer grundlosen Hoffnung, Wladimir Putin werde den Krieg rasch stoppen. Etwa nach der Eroberung eines Landkorridors zur Krim und der Aneignung der Donbass-Region? Nein, wird er nicht. In diesem Krieg geht es um etwas anderes.

Wie Russlands Außenminister Sergej Lawrow nun endlich öffentlich zugab, dient der Krieg dazu, die Vorherrschaft der USA in der Welt zu beenden. Das bedeutet: Putin will mit Washington verhandeln, nicht mit Kiew.

Die derzeitigen Verhandlungen, die zwischen Russland und der Ukraine laufen, führen zu nichts. Gemeint ist hier nicht ein schnelles Ergebnis; dies zu fordern, wäre tatsächlich naiv. Es geht um die Ebene, auf der die Gespräche laufen, um Verhandlungsteams und ihren Einfluss. Das russische Team hat keins. Es sind schwache Technokraten, die weitgehend an den Forderungen festhalten, die zum Krieg geführt haben. Und über Gefangenenaustausch oder die Bergung Gefallener kann lokal gesprochen werden.

Ukraine-Krieg: Kiew sollte Gespräche auf bisherigem Niveau abbrechen

Der Westen sollte Kiew ermutigen, Verhandlungen über das Ende des Krieges auf der bisherigen Ebene abzubrechen und Gespräche zwischen denen einzufordern, die Macht haben: hochrangige Militärs, die Feuerpausen für Flucht garantieren und diese auch durchsetzen können; Außenminister der Ukraine und Russlands in einem neutralen Land und schließlich direkte Gespräche zwischen Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin.

Ein Ende der bisherigen Gespräche allein wird aber nicht genügen. Ergänzt werden muss es um weitere Sanktionen, einen schnelleren Ausstieg aus der Energieabhängigkeit von Russland und neuen Waffen für die Verteidiger:innen der Ukraine.

Ukraine-Krieg: Sanktionen gegen Russland Schritt für Schritte verschärfen

Und der Westen muss seine Sanktionsstrategie ändern: Statt mit Strafen auf neue Kriegsverbrechen zu reagieren, wäre ein Sanktionsfahrplan sinnvoller. In konkreten Zeitabständen müssen neue Sanktionen folgen, wenn Moskau keine Schritte in Richtung Frieden unternimmt. Bisher ist die Gesprächsbereitschaft zu einseitig, weil der Westen den Frieden mehr will als Russland. Moskau sieht darin Schwäche.

In Russland selbst ist kein Protest zu erwarten, nicht nur, weil der größte Teil der Bevölkerung sich nicht über das wahre Geschehen in der Ukraine informieren will, was es durchaus könnte. Sondern weil es dem Kreml glauben will. Es geht nämlich auch um das eigene Weltbild, das die Mehrheit seit Putins Machtantritt verinnerlicht hat. Zerfällt es, zerfällt das bisherige Leben, das für viele besser ist als in der Zeit vor Putin.

Ukraine-Krieg: In Russland laufen Säuberungen

Wie die russischen Propaganda damit spielt, ist kaum zu vermitteln. Das ist so sehr jenseits von Vernunft, dass es unglaubwürdig wirkt, übersetzt man die Leitartikel dominierender Medien, wo etwa die Rede von einer „echten Sowjetunion“ ist, die nach der „Sonderoperation“ aufgebaut werde oder davon, dass der Westen Russland in den Krieg zieht.

Die Säuberungen im Machtapparat und in den Bildungseinrichtungen sowie die Vorbereitungen der russischen Wirtschaft auf quasi sowjetische Verhältnisse sind Zeichen dafür, dass das System Putin stabil ist. Einige westliche Konzerne hoffen immer noch, sie könnten bald wieder ihre Fabriken in Russland anlaufen lassen. Das darf aber nicht sein. Wirtschaftliche Kooperation mit Russland darf es auf absehbare Zeit nicht geben. Putin muss verstehen, dass es nicht nur um die heutige Ukraine geht, worüber verhandelt wird, sondern mindestens genauso um Russlands Zukunft. So lange der Westen das nicht glaubwürdig vermittelt, geht das Sterben in der Ukraine weiter. (Viktor Funk)

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