Geflüchtete im Ukraine-Krieg: Humanität muss für alle gelten

Sie ist wieder da, die Willkommenskultur. Das ist ein Lichtblick in dunkler Zeit. Aber Humanität ist erst dann verwirklicht, wenn sie für alle gilt. Der Leitartikel.
Berlin, Hauptbahnhof, am Ende der vergangenen Woche. In der Ebene zwischen Haupthalle und Hochbahngleisen hat sich eine lange Menschenschlange gebildet: Es sind vor allem Frauen, viele mit Kindern, und wer vom Krieg gegen die Ukraine nichts wüsste, könnte sie für eine touristische Reisegruppe halten.
Aber nicht erst die ukrainischen Flaggen mit Pfeilen, die zu Helferinnen und Helfern weisen, lassen jeden friedlichen Traum zerplatzen. Natürlich, es handelt sich um Menschen, die vor Wladimir Putins Angriffskrieg geflohen sind. Aber wer mit sich selbst ehrlich ist, wird sich eingestehen: Das Wort „Flüchtlinge“ stellt sich beim Betrachten der Szene erst mit einer kleinen Verzögerung ein. Diese Gruppe weißer, europäisch aussehender Menschen passt erst einmal nicht zu den Vorstellungen, die wir seit vielen Jahren mit diesem Begriff verbinden. „Flüchtlinge“, das waren Leute, denen man das „Fremde“ ansah: Menschen mit „anderer“ Hautfarbe, einer „anderen“ Kultur, einer „anderen“, eben „fremden“ Religion.
Auch im Jahr 2015, als viele Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan, aus dem Irak oder Eritrea kamen, erlebten wir an deutschen Bahnhöfen das berührende Phänomen der Willkommenskultur. Unzählige Einheimische machten sich auf, um zu helfen, nachdem die Politik sich entschieden hatte, der Macht des Faktischen nachzugeben und die Grenzen nicht dichtzumachen.
Ukraine-Krieg: Humanität muss für alle Geflüchteten gelten
Da schien für einen Augenblick zu gelten, was jedem menschenrechtlichen Ideal innewohnt: Humanität ist nicht teilbar. Solange sie nicht für alle gleichermaßen gilt – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Kultur und Religion –, ist sie nicht verwirklicht.
Was die Flüchtenden aus der Ukraine betrifft, zeigt Europa sein humanes Gesicht. Polen und Ungarn, die an das überfallene Land direkt grenzen, mobilisieren alle Kräfte für die Aufnahme. Auch Deutschland und viele andere europäische Staaten bereiten ihnen einen möglichst guten Empfang, richten Unterkünfte her und stellen die Erstversorgung sicher. Und die EU entdeckt eine Richtlinie, die es ihr ermöglicht, Geflüchteten in großer Zahl und ohne große Umstände einen legalen Aufenthalt zu gewährleisten – bis zu drei Jahre lang.
Das ist gut und richtig und über jeden Zweifel erhaben. Aber der hohe Anspruch der Humanität wäre vollständig erst dann erfüllt, wenn auch für die Zukunft die richtigen Schlüsse gezogen würden: Sollte es irgendwann wieder zu einer großen Migrationsbewegung aus dem arabischen Raum, aus Afrika oder Asien kommen, dann muss auch für diese Menschen gelten, was jetzt mit Recht für die Geflüchteten aus der Ukraine gilt.
Humanität ist nicht teilbar: Sie muss für alle Geflüchteten aus Ukraine und anderen Ländern gelten
Was nach dem Herbst 2015 folgte, in Deutschland und in anderen Teilen Europas erst recht, stand leider in ziemlich starkem Kontrast zu dem, was die EU und ihre Mitglieder jetzt leisten. Die Richtlinie, die etwa für Kriegsflüchtlinge aus Syrien die unbürokratische Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen ermöglicht hätte, existierte auch damals schon. Aber niemand unter den politisch Verantwortlichen kam offenbar auf die Idee, sie für die „Fremden“ aus dem arabischen Raum anzuwenden. Und schnell kehrte Europa – nicht zuletzt getrieben von den jetzt so offenherzigen Regierungen in Polen und Ungarn – zur Politik einer möglichst weitreichenden Flüchtlingsabschreckung zurück.
Das gilt auch für Deutschland. Hier ist der etwas schräge Satz „Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen“ zur politischen Parole geworden, mit der nicht etwa einer Abkehr von der Abschottungspolitik das Wort geredet wird, die ja damals eigentlich die Ursache für die chaotische Eskalation der Lage war. Im Gegenteil: Gemeint ist, dass die Abwehrmauern gegen Flüchtende dieses Mal halten sollen.
Humaner Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine: EU-Richtlinie gilt für alle Vertriebenen aus Drittländern
Die EU-Richtlinie, aus dem Jahr 2001, die jetzt bei der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine angewandt wird und ihnen ein Asylverfahren erspart, bezieht sich auf „Vertriebene aus Drittländern, die nicht in der Lage sind, in ihr Herkunftsland zurückzukehren“. Das gilt zweifellos für die Ukraine – aber hat es für Syrien, für nicht-weiße Menschen, etwa nicht gegolten?
Es mag sein, dass Zuwendung und Empathie manchmal zunächst leichter fallen, wenn die andern uns am ähnlichsten sind. Aber nie und nimmer ist es legitim, aus solchen Reflexen Politik zu machen. Erst wenn die Opfer von Krieg und Gewalt nicht mehr nach Hautfarbe, Kultur und Religion sortiert werden, kann aus dem erfreulich humanen Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine eine Umkehr werden – hin zu einer Politik der unbedingten Humanität. (Stephan Hebel)