Organspenden: überfällige Hilfe

Ein neuer Anlauf für mehr Organspenden ist dringlich. Er muss mehr umfassen als eine Widerspruchslösung. Der Leitartikel.
Es gibt Katastrophen, die durch Gewöhnung und Hilflosigkeit irgendwann zum stillschweigend hingenommenen Dauerskandal werden. Die schwere Krise der Organspende in Deutschland steht in dieser Gefahr.
Betroffen sind Tausende Schwerstkranke, davon allein 100 000 Dialyseabhängige, die teils jahrelang um ihr Überleben fürchten, weil das rettende Spenderorgan nicht kommt. Viele sterben währenddessen. Betroffen ist eine Medizin, die gesetzlich regelmäßig gehindert ist, Kranken die beste Therapie zu gewähren, nämlich eine Transplantation – und die vielen Sterbenden ihren Spendewunsch nicht erfüllen kann, weil nur wenige dem Hirntod erliegen. Betroffen sind auch Angehörige Sterbender, die in einer akuten Situation äußersten Schmerzes auch noch über Organspende entscheiden müssen – weil dieses Land es nicht schafft, den Spenderwillen besser zu erfassen.
So gesehen ist der Ruf von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nach einem neuen Anlauf zur Widerspruchslösung richtig. Ob er so, unabgesprochen in den eigenen Reihen, zielführend war, ist fraglich.
Nicht wenige glauben, dass sich bei einer erneuten Abstimmung im Bundestag eine Mehrheit für die Widerspruchsregelung finden könnte. Denn alle bisherigen Reformen haben die Hoffnungen nicht erfüllt. Die seit 2019 verbesserten Abläufe in den Entnahmekliniken haben nur wenig Nutzen gebracht. Und selbst wenn das mehrfach verschobene Onlineregister zur Erfassung des Spenderwillens irgendwann kommt: Menschen, die sich nicht mit Organspende befassen, wird eine digitale Plattform allein nicht dazu bringen.
Ein neuer Anlauf für eine Verbesserung der Organspendezahlen ist also dringend, aber er muss mehr umfassen als die Widerspruchslösung. Und er muss, ganz wichtig, erneut auf einer breiten Debatte aufbauen. Ohne das Verständnis der Bevölkerung kann es nicht gelingen. Die bittere Wahrheit: Bis das in deutlich mehr Transplantationen und weniger Todesfälle auf der Warteliste münden kann, werden Jahre vergehen. Deshalb muss die Debatte jetzt beginnen.
Die zu diskutierenden Hebel, über die Spenderzahlen erhöht werden können, sind in vielen anderen europäischen Ländern erfolgreich erprobt: erleichterte Lebendspenden, eine Widerspruchslösung und die Legalisierung von Organspenden nach Herzkreislauftod. Gesetzlich am einfachsten dürfte es sein, die strengen Grenzen für freiwillige, nichtkommerzielle Lebendspenden zu erweitern. Dazu gibt es schon Vorarbeiten im Parlament.
Viel gesagt ist zur Widerspruchslösung, mit der im Todesfall alle als spendewillig gelten, die nicht zu Lebzeiten widersprochen haben. Sie zieht die Konsequenz daraus, dass 80 Prozent der Menschen bei uns Organspende positiv sehen. Und sie würde nicht mehr länger diese Mehrheit, sondern die Minderheit zwingen, ihren Willen aktiv zu äußern, damit er im Todesfall beachtet wird.
Die Widerspruchslösung fordert aber auch einen Quantensprung bei der öffentlichen Information und Aufklärung über Organspende. Alle, auch alle an den Rändern der Gesellschaft, müssen wissen, dass und wie sie Nein sagen müssen, wenn sie nicht spenden wollen. Mehr Aufklärung hatte schon die bescheidene Reform von 2020 versprochen – selbst das ist bisher nicht eingelöst.
Das muss nachgeholt werden, und dabei sollten wir auch eine offene Debatte starten, inwieweit Organspenden nicht nur nach Hirntod, sondern auch nach Herzkreislaufstillstand erlaubt werden können. Hier muss am meisten Überzeugungsarbeit geleistet werden, müssen viele Fragen beantwortet werden. Hier liegen zugleich Chancen – nicht nur auf mehr Spenderorgane. Auch darauf, dass Menschen, die im Sterben liegen, ihr erklärter Spendewille öfter erfüllt werden kann.
Der Herztod, etwa der Herzinfarkt, ist die am häufigsten ärztlich festgestellte Todesart. Er ist rechtlich akzeptiert, sehr viele Menschen sind im eigenen Umfeld schon damit in Berührung gekommen. Trotzdem stellen sich, wenn es nach dem Tod um Organentnahme geht, weitere Fragen. Etwa die: Kann ein Mensch mit Spenderausweis damit rechnen, dass bei Herzstillstand trotzdem erst einmal alles für seine Reanimation getan wird?
Programme wie in Österreich und der Schweiz zeigen, wie eine Regelung aussehen kann: Die Frage nach dem Spendewillen wird dort nur gestellt bei Patient:innen auf der Intensivstation, und erst, wenn eine aussichtslose Prognose vorliegt und die lebenserhaltende Behandlung darum beendet werden soll – auch, um ihr Leid nicht zu verlängern.
Damit ist noch nicht alles geklärt. Aber es ist eine erste Antwort. Weitere kann nur die offene und unvoreingenommene Debatte bringen. Das Ergebnis – mehr Organspenden – wäre im Übrigen im Interesse aller. Denn das Risiko, irgendwann ein Spenderorgan zu brauchen, tragen wir alle. Es ist größer als die Wahrscheinlichkeit, als spendewilliger Mensch tatsächlich am Lebensende Organspender:in zu werden.