Türkei-Wahl: Erdogans Triumph ist Kiliçdaroglus Versagen

In der Türkei wird der Wahlkampf zum Wettbewerb um Schäbigkeit. Auch Herausforderer Kiliçdaroglu sät das Gift des Nationalismus. Der Leitartikel.
Es ist ein Trauerspiel, das die türkische Opposition kurz vor der Präsidenten-Stichwahl am kommenden Sonntag aufführt. Wahrscheinlich verspielt sie die letzte Chance auf den Sieg ihres Kandidaten Kemal Kiliçdaroglu gegen den Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdogan und dessen ruinöses Regime.
Weil er glaubt, nur mit Stimmen aus dem rechten Lager noch gewinnen zu können, hat Kiliçdaroglu seine menschenfreundlich „frühlingshafte“ Wahlkampagne diametral gedreht. Als Präsident werde er „alle zehn Millionen“ Geflüchteten, die Erdogan hereingelassen habe, innerhalb eines Jahres aus dem Land werfen, wütet er nun. Doch die rechtspopulistischen Parolen könnten sich rächen, weil der Kandidat andere Unterstützer damit verprellt – vor allem die große Minderheit der Kurden.
Im aktuellen Wahlkampf schien es vielen ausländischen Beobachterinnen und Beobachtern, als sei in der Türkei endlich ein Politiker erschienen, der den Mut habe, mit unseligen Traditionen des auf Atatürk zurückgehenden Kemalismus aufzuräumen. Vor allem mit dem Gift des türkischen Nationalismus, den der säkulare Republikgründer zu einer Art Ersatzreligion erhoben hatte. Besonders die kurdische Minderheit bekam die rassistische Rigorosität zu spüren. Alles Kurdische wurde verboten. Als sich die alevitischen Kurden 1937 in der zentralanatolischen Region Dersim (Tunceli) gegen die Zwangstürkisierung erhoben, ließ Atatürk bis zu 70 000 Menschen umbringen.
Kiliçdaroglu suchte den Schulterschluss mit den Kurden
Kemal Kiliçdaroglu stammt aus Dersim. Er kennt die Leidensgeschichten. Im Wahlkampf zeigte er Mut. Er bekannte sich zu seiner Herkunft und der alevitischen Religion. Er suchte den Schulterschluss mit den bis heute unterdrückten Kurdinnen und Kurden, traf sich mit der Spitze der prokurdischen Parlamentspartei HDP. Er wusste, dass er ohne die rund zwölf Prozent HDP-Stimmen keine Chance gegen Erdogan haben würde.
Seine Charmeoffensive hatte Erfolg. In den Kurdengebieten der Osttürkei erzielte Kiliçdaroglu seine besten Wahlergebnisse. Er wurde als möglicher Versöhner einer gespaltenen Gesellschaft gefeiert – für einen kurzen historischen Moment.
Zu früh gefreut. Nach der Niederlage im ersten Wahlgang zeigte der nette Herr Kemal ein anderes Gesicht. Aus wahltaktischen Gründen begann er einen populistischen Schäbigkeitswettlauf mit Erdogan in Sachen Ausländerhass. Am Mittwoch nahm Kiliçdaroglu dann eine kleine rechtsextreme Partei in sein Wahlbündnis auf, deren Chef den Kurdinnen und Kurden die demokratische Selbstbestimmung ihrer Bürgermeister absprach und sie damit maximal verstörte.
Kiliçdaroglu verspielt die Jahrhundertchance
Kiliçdaroglu hatte die Jahrhundertchance, zum Jahrhundertjubiläum der türkischen Republik das unheilvolle Erbe Atatürks zu überwinden. Er hat sie verspielt und einmal mehr bewiesen, dass die Geburtskrankheiten des Kemalismus nicht zu heilen sind. Tragisch ist sein Twist für die säkularen, modernen Kurdinnen und Kurden, die den Oppositionsführer zu Millionen gewählt haben. Sie stehen – wieder einmal – vor den Trümmern ihrer Hoffnungen auf Gleichberechtigung.
Tragisch ist das Geschehen auch für die Türkei selbst, die dringend einen Reformer gebraucht hätte, der den kemalistisch-nationalistischen Ballast abwirft und das Land in eine moderne Zukunft führt. Das Dilemma, einen Wahlsieg nur mit der Mobilisierung von Nationalist:innen und Kurd:innen gleichermaßen erreichen zu können, hatte Kiliçdaroglu mit einer feinen Balance der Interessen austariert. Es hätte Mut erfordert, zur Stichwahl bei dieser Linie zu bleiben – auch um den Preis der Niederlage, aber mit einem Scheck auf die Zukunft. Vielleicht hätte der populäre Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu die Öffnung zur Moderne leisten können, aber die CHP wagte es wegen eines Strafbefehls gegen ihn nicht, ihn zum Präsidentschaftskandidaten zu küren.
Kiliçdaroglus Versagen ist Erdogans Triumph. Der Präsident liegt in letzten Meinungsumfragen deutlich vorn, und die Kurd:innen schüchtert der „Boss“ mit einer Verhaftungswelle noch einmal kräftig ein. Wie zum Hohn tauscht der große Polarisierer die Rollen und spielt sich plötzlich als Versöhner auf. Unter seiner Regierung könne jeder nach seiner Façon glücklich werden, verspricht der Präsident, der Kritiker:innen zu Tausenden einsperren lässt. Oppositionskandidat Kiliçdaroglu habe „seine Maske fallen lassen“ und zeige mit ausländerfeindlichen Parolen sein „wahres Gesicht“, höhnt er. Es sieht danach aus, als ob der Langzeitherrscher noch einmal fünf Jahre regieren könnte. Vielleicht muss in der Türkei alles noch viel schlechter werden, damit es besser werden kann.