Hohe Corona-Infektionszahlen: Tsunami statt Welle

Der Präsenzunterricht in einer Zeit hoher Corona-Infektionszahlen hat Folgen. Dabei wird die Gesundheit der Schwächsten aufs Spiel gesetzt. Der Leitartikel.
Frankfurt – Die Impfmüdigkeit der einen befördert die Handlungsmüdigkeit der anderen. Corona trifft auf eine erschöpfte Gesellschaft. Zu den Verlierern gehören Kinder und Jugendliche.
Nehmen wir die Schulen als Gradmesser. Es sind schließlich Kinder, um die es dort geht. Also eine Gruppe, die man getrost zu den Schwächsten in der Gesellschaft zählen darf.
Wie also geht unsere Gesellschaft mit dieser vulnerablen Gruppe um? Schützt sie diese ausreichend vor den Gefahren, die mit der Corona-Pandemie einhergehen? Ein Blick auf die Schulen zeigt: wohl kaum.
Die Corona-Inzidenzzahlen steigen und in Büros wird ohne Schutzmaßnahmen gearbeitet
Ja, es mag immer noch Klassenräume geben, die kaum zu lüften sind und die dennoch immer noch nicht über technische Luftreinigungsanlagen verfügen. Ja, es gibt immer noch Lehrkräfte, die nicht geimpft sind und die dennoch in vollen Klassenräumen vor Jungen und Mädchen stehen, für die es immer noch keinen zugelassenen Impfschutz gibt. Und ja, es fahren landauf, landab immer noch und schon wieder völlig überfüllte Schulbusse, in denen Ansteckungen trotz der mehr oder weniger gewissenhaft befolgten Maskenpflicht kaum zu verhindern sind.
Aber das ist es nicht. Nicht wirklich. Das Problem liegt nicht in der Schule. Es liegt in der Gesellschaft selbst.
Erste Weihnachtsmärkte haben geöffnet, in Großraumbüros wird nach wie vor ungeimpft, ungetestet und ohne Maske gearbeitet, private Feiern hatten in den vergangenen Wochen Konjunktur. Die Inzidenzzahlen erklimmen Gipfel um Gipfel und machen den Eindruck, in absehbarer Zeit in kein Tal mehr absteigen zu wollen. Freie Betten auf den Intensivstationen werden zusehends knapp. Dass Ärzt:innen und Pfleger:innen längst auf dem Zahnfleisch gehen, gehört zum Allgemeinwissen.
Corona trifft auf eine erschöpfte Gesellschaft
Und doch schien lange und scheint noch immer eine seltsame Trägheit und Gleichgültigkeit über dem Land zu liegen, die nur zum geringen Teil der quasi regierungslosen Lage im Bund geschuldet sein kann. Es sieht so aus, als habe die Impfmüdigkeit der einen die Erregungs- und Handlungsmüdigkeit der anderen befördert. Corona trifft auf eine erschöpfte Gesellschaft.
Man hat Impfzentren geschlossen, die nun dringend wieder gebraucht werden. Man hat die Impfkampagne vor sich hin tröpfeln lassen, sodass wir mit Müh und Not die 70-Prozent-Marke der wenigstens erstmals Immunisierten gerade eben erst erreicht haben. Und man hat – Gesundheitsminister Jens Spahn hat – erst kürzlich bemerkt, dass Boostern ein probates Mittel sein kann (siehe Israel), eine Corona-Welle zu brechen, die sich bei uns nun schon zu Tsunamihöhe aufgetürmt hat. Gerade erst fängt man hektisch an, all das Versäumte, Verbummelte und Vertrödelte nachholen zu wollen.
Auch die vierte Corona-Welle geht wieder zulasten der Kinder
Und was ist mit den Schulen? Werden sie dieses Mal offen bleiben können? Allen Beteuerungen zum Trotz sind auch Schulschließungen, noch einmal Schulschließungen, nicht ausgeschlossen. Und genau hier ist der Punkt, an dem eine Gesellschaft versagt hat beim Schutz einer ihrer vulnerablen Gruppen. Auch diese vierte Welle geht wieder zulasten der Kinder. Unweigerlich.
Was Schulschließungen anrichten, haben wir gesehen. Bis zu einem Viertel der Kinder und Jugendlichen haben massive Lernrückstände – und das ist nur der sichtbarste Effekt. Psychische und soziale Störungen und Defizite dürften tatsächlich das weitaus größere Problem sein und sind weitaus schwieriger auszugleichen.
Präsenzunterricht unter hohen Corona-Infektionszahlen hat Folgen
Doch auch ein Präsenzunterricht unter den Bedingungen einer vierten Welle und von Inzidenzen von 200, 300, vielleicht bald 1000, wie jetzt schon in einigen Regionen Deutschlands – auch ein solcher Präsenzunterricht hat Folgen. Ansteckungen sind, trotz Tests und Masken, nicht zu verhindern. Wer sich nicht impfen lässt, wer sich nicht impfen lassen kann (wie die unter 12-Jährigen) wird früher oder später an Covid-19 erkranken. Angesichts der massiven Ausbreitung des Virus und der hohen Zahl der Ungeimpften ist das keine Frage des Ob, sondern des Wann.
Deshalb hat unsere Gesellschaft versagt. Weil sie den vulnerablen Gruppen (das sind nicht nur, aber eben auch die Kinder) den Schutz versagt.
Es wäre vermeidbar gewesen, in diese ausweglos verfahren scheinende Situation zu geraten. Jetzt hängen wir mitten in ihr fest. Und solange der Ausweg aus der Pandemie, der Impfschutz, für Millionen von Menschen das größere Übel als die Krankheit selbst zu sein scheint – so lange bleiben wir darin stecken. Man könnte schier daran verzweifeln. Nur wäre damit auch keinem geholfen. (Peter Hanack)