Streit um Diplomatenausweisung: Strafen für Erdogan reichen nicht
Der Westen sollte Erdogans Drohung nicht nur mit Sanktionen beantworten. Nötig ist eine langfristige Strategie. Der Leitartikel.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan will Diplomaten seiner Verbündeten aus EU und Nato ausweisen und provoziert damit einen Bruch mit dem Westen. Genau deshalb sollten weder die EU-Staaten noch die USA Erdogans Provokation ausschließlich mit Sanktionen beantworten oder gar die belasteten Beziehungen mit Ankara ganz abbrechen.
Denn so drastisch Erdogan vorgeht, so bekannt ist seine Strategie. Je mehr er innenpolitisch unter Druck steht, desto stärker provoziert er den Westen. Erdogan will mit dem Streit von der wirtschaftlichen Talfahrt seines Landes genauso ablenken wie von seinen eigenen Schwächen und den schlechten Umfragewerten für seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Kurz gesagt: Der vom Reformer zum Autokraten gewandelte Erdogan kämpft um sein politisches Überleben.
Erdogan: Sanktionen alleine werden das Problem nicht lösen
Das heißt nicht, dass der Westen nach diesem Eklat ausschließlich auf ihn zugehen sollte. Natürlich muss dieser Schritt scharf gerügt werden. Doch Sanktionen alleine werden das Problem nicht lösen. Sie würden aber den Konflikt eskalieren. Damit kennt sich Erdogan nicht nur besser aus als der Westen, es ist auch in seinem Sinne.

Das ist auch kein Plädoyer dafür, den politischen Ansatz von Kanzlerin Angela Merkel fortzusetzen, mit viel Geduld und noch mehr Kompromissen zu versuchen, den Streit mit Erdogan beizulegen. Dieses Vorgehen ist alles andere als erfolgreich, wie sich nicht jetzt erst zeigt, kurz nach dem letzten Besuch Merkels bei Erdogan, während dem sie die „sehr gute Zusammenarbeit“ mit dem türkischen Staatschef noch lobte.
EU und USA brauchen gemeinsame Strategie gegen Erdogan
Vielmehr sollten EU und USA eine gemeinsame Strategie entwickeln, mit der sie die Regierung Erdogan in die Schranken weisen, ohne dem Land die Tür zu weisen. Das setzt voraus, dass sie sich nicht nur mit Ankaras Politik beschäftigen, wenn etwa deutsche Journalisten verhaftet werden oder Erdogan Flüchtlinge nach Europa schickt.
Es wäre also an der Zeit, Erdogan unmissverständlich und dauerhaft zu kritisieren, wenn er weiter den Kritikerinnen und Kritikern im Land die Daumenschrauben anzieht oder er die Rechte der Kurden beschneidet. Gleichzeitig könnte man Erdogan Gespräche über die von ihm angestrebte Erweiterung der Zollunion in Aussicht zu stellen.
Verhältnisse für Geflüchtete in Griechenland verbessern
Allerdings nicht, um ihn für sein Fehlverhalten zu belohnen, sondern um ihm und den Menschen im Land zu zeigen, dass der Westen an konstruktiven Beziehungen interessiert ist. Während möglichen Verhandlungen müsste dann jede mögliche Erleichterung für Ankara an eine Gegenleistung gekoppelt werden. Es würde auch deutlich, dass ein gemeinsamer Weg allen zugute kommt, aber auch, dass Erdogan wirtschaftlich den Westen mehr braucht als umgekehrt.
Und in der Migrationspolitik müssten Deutschland und die EU-Staaten die Vereinbarung mit der Türkei nicht alleine mit dem Ziel aufrecht erhalten, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Brüssel müsste genau hinschauen, dass die Mittel auch bei jenen ankommt, die in der Türkei Schutz gefunden haben. Sie muss aber auch intensiver als bisher dafür sorgen, dass Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden. Genauso wichtig wäre es, die menschenunwürdigen Verhältnisse für Geflüchtete in Griechenland zu verbessern und die unsäglichen Pushbacks zu beenden.
Zentrale Rolle für die zukünftige Regierung
Hilfreich wäre es sicher auch, wenn viele nicht Erdogan mit der Türkei gleichsetzen würden. Vielmehr gibt es sehr viele in der Türkei, die sich für demokratische Werte und damit gegen die rechtsstaatliche Politik und den Demokratieabbau des Autokraten einsetzen. Auch ihnen könnte der Westen stärker beistehen als bisher mit nur punktueller Kritik an Erdogan. Der Westen sollte also die berechtigte Kritik an Erdogans Politik mit einer Strategie erweitern, die sein Fehlverhalten sanktioniert und gleichzeitig einen gemeinsamen Weg weist, mit dem der Konflikt beigelegt werden kann und der über die Zeit Erdogans hinausweist.
Hier kommt der künftigen Bundesregierung eine zentrale Rolle zu. Sie könnte gemeinsam mit den EU-Partnern eine gemeinsame Politik entwickeln, die Menschenrechte und rechtsstaatliche Ziele höher bewertet als bisher und zusätzlich ökonomischen Interessen nicht mehr den Vorrang gibt. Doch bedauerlicherweise haben die Ampel-Sondierer dazu wenig gesagt. Sie müssen ihr erwartbares Bekenntnis zur EU und zum Multilateralismus noch ergänzen, bis eine außenpolitische Strategie erkennbar wird. Da haben sie noch viel Arbeit vor sich. (Andreas Schwarzkopf)