Sterbehilfe: Selbstbestimmung ist keine Entsolidarisierung

Wer über Sterbehilfe spricht, muss auch über Lebenshilfe sprechen. Denn Selbstbestimmung geht nicht mit einer Entsolidarisierung einher.
Fast könnte man meinen, zur Sterbehilfe sei alles gesagt. Wäre es so, es wäre nicht verwunderlich. 2015 beendete der Bundestag die bis dato liberale Praxis in Deutschland – nach einer langen, teils erbittert geführten Diskussion. Vor einem Jahr kippte das Bundesverfassungsgericht das Sterbehilfeverbot, stellte die alte Rechtslage wieder her – und löste wieder starke Emotionen aus: überraschte Erleichterung auf der einen Seite, fassungsloses Entsetzen auf der anderen. Jetzt könnte ein neuer Gesetzgebungsprozess beginnen. Schon erheben sich wieder dieselben Stimmen. Ein Déjà-vu?
Nicht nur. Die Klarheit, mit der Karlsruhe im Februar 2020 den paternalistischen Staat in die Schranken wies, hat eine Dynamik in Gang gesetzt, die die teils um sich selbst kreisende Debatte verändert. Das zeigt sich etwa in den großen christlichen Kirchen. Sie wirkten bisher wie ein monolithischer Block – unumstößlich schien die Position, dass der Mensch nicht über das von Gott geschenkte Leben verfügen dürfe. Nun haben die Wortmeldungen mehrerer evangelischer Theologinnen und Theologen Risse in diesem Block sichtbar gemacht. Jene wollen Hilfe zur Selbsttötung in kirchlichen Heimen zulassen oder gar anbieten.
Sterbehilfe: Theologie und Ärzteschaft reflektieren ihr Selbstverständnis
Unerhört – die Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland distanzierte sich, die katholische Kirche zeigte sich erschüttert. Aber so einfach lässt sich die Debatte, wie eine empathische, respektvolle Seelsorge aussieht, nicht beenden.
Auch die Ärztinnen und Ärzte reflektieren ihr Selbstverständnis. Etliche Bundestagsabgeordnete haben ihnen bei einer neu zu regelnden Suizidassistenz eine zentrale Rolle zugedacht – teils um Sterbehilfevereine überflüssig zu machen.
Der Deutsche Ärztetag soll im Mai darüber entscheiden, ob der Satz „Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ aus der Musterberufsordnung gestrichen wird. Klingt selbstverständlich, längst überfällig im Sinne der Berufs- und Gewissensfreiheit. Aber dass der Ärztetag so entscheidet, ist längst nicht ausgemacht – obgleich niemand, wirklich niemand die Medizinerinnen und Mediziner zur Sterbehilfe verpflichten will.
Die geltenden Regelungen zur Sterbehilfe werden immer mehr in Frage gestellt
Auch in der Ärzteschaft werden die Stimmen lauter, die die vermeintlichen Gewissheiten einer bevormundenden Medizin infrage stellen. Etwa dass bei einer flächendeckenden Palliativversorgung der Wunsch nach Sterbehilfe gar nicht erst aufkomme. Oder dass fast jeder Suizidwunsch auf eine psychische, meist depressive Störung zurückgehe. Das ist Pathologisierung pur.
Sie negiert die Möglichkeit einer frei verantwortlichen Entscheidung zum Tod und steht damit in Widerspruch zu dem Menschenbild, das der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt. Es ist das Bild des autonomen Individuums. Ihm billigt die Verfassung in der Karlsruher Lesart ein Grundrecht auf einen selbstbestimmten Tod zu, abgeleitet aus der Menschenwürde.
Die CDU will Sterbehilfe wieder grundsätzlich strafbar machen
In einem neuen Gesetzgebungsverfahren gilt es, diesen wiedergewonnenen Freiheitsraum zu verteidigen. Dazu liegen seit einigen Wochen ein fraktionsübergreifender Entwurf und einer der Grünen vor, die diesen emanzipatorischen Geist atmen. Aber auch die andere Seite ist längst aktiv und wird alles daransetzen, dass die Suizidassistenz – trotz Karlsruhe – wieder so restriktiv wie nur irgend möglich geregelt wird.
Geht es nach dem Willen einer Gruppe um den Abgeordneten Ansgar Heveling und den früheren Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (beide CDU), soll die geschäftsmäßige Suizidhilfe wieder grundsätzlich strafbar werden. Dazu passt, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seiner Weisung an die Bundesarzneimittelbehörde weiter die Abgabe des tödlichen Medikaments Natrium-Pentobarbital an Schwerstkranke blockiert – unter Missachtung eines Urteils des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts.
Keine Spur von Schreckensbild der Sterbehilfe
Gegnerinnen und Gegner der Sterbehilfe malen unablässig das Schreckensbild einer vermeintlichen Normalisierung des Suizids an die Wand. Das ist absurd, wenn damit eine Bagatellisierung der Selbsttötung gemeint ist. Auch bei der Liberalisierung des Abtreibungsrechts wurde so argumentiert – und es erwies sich als falsch.
Bedenkenswert sind hingegen Überlegungen wie die des belgischen Ethikers Jean-Pierre Wils zu den sozialen Folgen der auch von ihm begrüßten Liberalisierung. Er warnt, eine Befreiung aus Abhängigkeiten könne zu neuen Abhängigkeiten führen. Es sei nicht auszuschließen, dass Menschen auch zu Gefangenen ihrer Autonomie würden – zumal in einer „neoliberal durchfurchten“ Gesellschaft. In der jedes Leben auf Steigerung, Selbstoptimierung und Grenzüberschreitung hin angelegt sei.
Sterbehilfe heißt Selbstbestimmung
Individualisierung und das Streben nach Selbstbestimmung gehen nicht zwingend mit einer Entsolidarisierung einher. Ein reiches Land, das einen zunehmenden Druck auf Alte, Schwache und Kranke befürchtet, hat sozialpolitisch viele Möglichkeit dagegenzusteuern. Es kann auch ihre Autonomie stärken: etwa durch eine bessere Pflege, Hilfen für Angehörige, neue Wohnformen. Wer über Sterbehilfe spricht, muss auch über Lebenshilfe sprechen. (Karin Dalka)