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Verbot von Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland: Der totalitäre Geist lebt – noch

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Von: Viktor Funk

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„Hände weg von Memorial, Freiheit für politische Gefangene“: Ein Demonstrant vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau.
„Hände weg von Memorial, Freiheit für politische Gefangene“: Ein Demonstrant vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau. © Pavel Golovkin/dpa

Die Organisation Memorial International muss ihre Arbeit in Putins Russland einstellen. Der Schaden ist kaum in Worte zu fassen. Ein Kommentar.

Wer sich mit dem Unrecht der Vergangenheit befasst, kann die Augen vor dem Unrecht der Gegenwart nicht verschließen. Genau das wird jetzt der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial International zum Verhängnis. Weil die Organisation sich nicht nur mit dem Terror und dem Unrecht der Sowjetunion befasst, sondern auch die Verbrechen des heutigen Russland anprangert, wird die älteste und Nichtregierungsorganisation des Landes zur Schließung gezwungen.

Die Gründe, die die Anklage ins Feld geführt hat, sind so lächerlich, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen, die die Verteidigung von Memorial dennoch unternommen hatte, Zeitverschwendung war. Gemäß dem alten sowjetischen Spruch: „Gibt es einen Menschen, findet sich auch ein Paragraph“ stand das Urteil gegen Memorial schon fest, bevor die Verhandlungen begannen. Die Aktivistinnen und Aktivisten sollten zum Schweigen gebracht werden, und seien die Vorwürfe noch so lächerlich.

Memorial-Verbot in Russland: Blütezeit der Aufklärung unter Gorbatschow

Die Wurzeln von Memorial liegen in der Zeit, als unter dem letzten sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow die Aufarbeitung des nachrevolutionären Regimes bis zum Tode von Josef Stalin 1953 begann – und zwar öffentlich. Das Zwangsarbeitssystem „Gulag“, in dem Millionen Menschen oft wegen willkürlicher Anschuldigungen endeten und starben, war Thema in der breiten Presse.

Die kurze Zeit in den 90er Jahren und Anfang der 2000er Jahre, als einige Archive der Geheimdienste und lokaler Verwaltungen für die Wissenschaft zugänglich waren, ließ Forschende weltweit glauben, dass eine echte Aufarbeitung der dunkelsten Kapitel der Sowjetunion möglich sein wird. Es war auch die Zeit, als so etwas wie Demokratie für Russland denkbar schien.

Und dann kam Putin: Der Einfluss des Präsidenten auf die Arbeit von Memorial in Russland

Aufarbeitung der Vergangenheit und die Arbeit an einer besseren Zukunft gingen Hand in Hand. Doch die kritsichen Aktiven damals machten die Rechnung ohne den ehemaligen Geheimdiensmann Wladimir Putin, der einst sinngemäß verkündete: Ein Geheimdienstler hört niemals auf, Geheimdienstler zu sein.

Bezogen auf die Arbeit von Memorial und anderer Menschenrechtsgruppen in Russland sind seit dem Machtantritt Wladimir Putins zwei Entwicklungen zu sehen: Die kritische Betrachtung der sowjetischen Geschichte wurde nach und nach abgewickelt und die kritische Auseinandersetzung mit Rechtsverstößen des heutigen Russland wurde ebenso unterbunden. Die politische Rehabilitierung Stalins geht einher mit einer immer autoritäreren Politik in der Gegenwart – der totalitäre Geist des sowjetischen Imperiums ist also noch lange nicht tot. Und das Dramatische ist: Er greift nach der Zukunft nicht nur Russlands.

Verbot von Memorial in Russland: Putins Regime handelt destruktiv nach innen und außen

Die Repressionen gegen Memorial sollten nicht unabhängig von Putins außenpolitischem Gebaren betrachtet werden. Die Destruktivität, mit der sein Justizapparat nach innen agiert, ist die gleiche Destruktivität, mit der der Kreml außenpolitisch auftritt. Es sind dieselben Kräfte, dieselbe Ideologie und dieselben Motive: Eine Gruppe autoritärer Politiker, die der zusammengebrochenen Großmacht nachtrauert, versucht mit aller Kraft ein neues Imperium zu errichten und ist dabei zu großen Zerstörungen bereit.

Das ist ein Problem nicht nur für innerrussische kritische Kräfte. Sie verstummen und kümmern sich vor allem um das Private. In die große Politik gehen fast nur noch die, die von den herrschenden Machtverhältnissen profitieren wollen, die also loyal sind und das System mittragen. Sie unterstützen dann auch Gesetze, die kritische Organisationen wie Memorial erst zu „ausländischen Agentren“ erklären und sie schweigen dann, wenn solche Organisationen unterdrückt werden.

Arbeit von Memorial ins Ausland verlagern: Internationale Gemeinschaft muss Russland Grenzen setzen

Außenpolitisch steht zwar eine kritische internationale Gemeinschaft Moskau gegenüber. Doch ein Verhandlungspartner, der weniger zu verlieren hat, weil er zu Zerstörungen wie in der Ukraine bereit ist, hat damit zumindest auf den ersten Blick einen Vorteil auf seiner Seite. Doch davon darf sich die internationale Gemeinschaft nicht blenden lassen. Sie kann am Beispiel Memorial Putins Regime klarmachen, dass es Grenzen auch für ihn gibt.

Die Erkenntnisse über die sowjetische Vergangenheit, die Memorial zutage gefördert hat, dürfen nicht wieder verloren gehen, sie können – ähnliche wie zur Zeit der Sowjetunion – auch im Ausland zusammengetragen, archiviert, publiziert, vervielfältigt und so auch für die Menschen in Russland zugänglich gemacht werden. So wird dann nicht nur die unschätzbar wichtige Arbeit von Memorial aufbewahrt. So kann auch Moskau deutlich gemacht werden, dass die internationale Gemeinschaft das Unrecht der sowjetischen Vergangenheit kennt und folglich auch die Augen vor Unrechtstaten des heutigen Russland nicht verschließen wird. (Viktor Funk)

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