Spaltung der Gesellschaft: die neue Regierung handelt nicht konsequent – aus Angst

Hass und Drohungen im Internet gibt es nicht erst seit Corona. Wer sie bekämpfen will, muss ihre Ursachen verstehen. Der Leitartikel.
Die USA, heißt es oft, seien Europa ein paar Jahre voraus. Wenn das stimmt, verheißt es für uns nichts Gutes, dass der rechte Wutpopulismus dort sogar einen großen Fernsehsender besitzt: Fox News. Wir haben bisher nur „Bild“ und den angeschlossenen TV-Kanal. Das ist noch nicht ganz so schlimm wie Fox, aber die Richtung „stimmt“.
Was die USA betrifft, sprechen wir seit Donald Trump gern von der „gespaltenen Gesellschaft“, und Fox News liefert dafür die Beweise. So gerade in diesen Tagen: Ein Kommentator des Senders fantasierte vom „Todesschuss“ auf den nationalen Chefvirologen Anthony Fauci. Hinterher, auch das Routine bei der extremen Rechten, wurde ein bisschen relativiert: Das sei doch nur ein Sprachbild für harte Interviewfragen gewesen. Aber die mörderische Botschaft fürs Wutpublikum war gesetzt.
Corona, Migration, Klima: Spaltung der Gesellschaft zeigt sich in vielen Themen
Wie gesagt, noch setzt „Bild“ die Signale etwas indirekter. Aber auch so kommen sie an: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie auf einem Steckbrief und wahrheitswidrig als „Die Lockdown-Macher“ zu präsentieren, genügt. Die Resonanz kann sich, starke Nerven vorausgesetzt, jede und jeder auf Twitter zu Gemüte führen. Die irrwitzigen Fantasien über die angebliche Corona-Diktatur, die auf Twitter ausgerechnet unter dem Hashtag #Faschismus verbreitet werden, sprechen Bände.
Es wäre sicher falsch, von der Lautstärke in „sozialen“ Netzwerken und auf dem medialen Boulevard auf Massenwirksamkeit oder gar Mehrheitsfähigkeit dieses Extremismus zu schließen. Olaf Scholz hat wahrscheinlich recht, wenn er zumindest den militanten Teil des Wutpopulismus als „winzige Minderheit der Hasserfüllten“ bezeichnet. Aber die Schlussfolgerung des Kanzlers – „Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten“ – klingt ihrerseits gefährlich nach Realitätsverweigerung.
Die Spaltungen und Brüche, die sich in den vergangenen Jahren aufgetan haben, zeigen sich keineswegs nur bei Corona, sondern auch bei Themen wie Migration und Klima. Allein durch die Pandemie verursacht sind sie schon gar nicht. Aber im Streit über Impfungen, Kontaktreduzierungen und Ansteckungsrisiken kommen sie derzeit natürlich am deutlichsten zum Vorschein. Und das gilt ebenso für die parteiübergreifende Unfähigkeit der Verantwortlichen, dagegen wirksam vorzugehen.
Spaltung der Gesellschaft: „Verlorene Kinder des Neoliberalismus“
Wenn hier von „Wutpopulismus“ die Rede ist, steckt darin der folgende Befund: Es gibt auch in diesem Land offensichtlich eine gewisse „Virenlast“ an fundamentaler Unzufriedenheit, die sich vor allem dann zum kollektiven (Wut-)Ausbruch steigern lässt, wenn Krisen nicht mehr zu ignorieren und zu verdrängen sind. Niemand sollte glauben, dass dieses Phänomen klein und ungefährlich sei, nur weil sich bei uns noch kein Trump oder Bolsonaro, kein Orban oder Kaczynski gefunden hat, der es bis zur Mehrheitsfähigkeit populistisch auszuschlachten versteht.
Diese Entwicklung muss zu verstehen versuchen, wer sie bekämpfen will – wobei „verstehen“ keineswegs bedeutet, Verständnis zu haben für menschenverachtende Propaganda. Gewalt oder die Drohung mit ihr sind zu verfolgen, da hat die Meinungsfreiheit ihre Grenzen. Aber das sollte niemanden daran hindern zu untersuchen, woher diese Wut kommt.
Der britische Publizist Paul Mason hat dazu kürzlich in dieser Zeitung Wichtiges gesagt. Er sieht in den Verwerfungen, die sicher tiefer reichen als die Oberfläche des Twitter-Geschreis, ein Zeichen für die irregeleitete Identitätssuche der „verlorenen Kinder des Neoliberalismus“.
Mit anderen Worten: Seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan hat man uns eingebläut, unseres Glückes Schmied seien ausschließlich wir selbst, jede und jeder für sich, und das Elend der Welt finde ohnehin anderswo statt. Die Abschottung der Grenzen, die unentschlossene Klimapolitik und die oft leeren Versprechungen zur Überwindung der Pandemie – all das lässt sich erklären als hilfloser Versuch der Politik, die Illusion wohlhabender Unverletzlichkeit im globalen Norden aufrechtzuerhalten.
Neue Regierung um Olaf Scholz wackelt aus Angst
Nun entlädt sich die Erkenntnis (oder das vage Gefühl), dass die Illusion auf Dauer nicht trägt, nicht oder nicht nur in einer nachdenklichen Debatte über geregelte Zuwanderung, einen klimafreundlichen Umbau von Wirtschaft und Konsum oder die angemessene Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten. Sie entlädt sich teils in Wut, teils in duldender Passivität. Und die Politik, die jüngsten Corona-Beschlüsse zeigen es, wagt sich nicht an konsequentes und mit klarer Haltung vermitteltes Handeln, wie es ihr eigener Spitzenbeamter Lothar Wieler gerade gefordert hat.
Dieses Zaudern trägt zur Verunsicherung und damit zur Wut am Ende selbst bei. Das Schlimme dabei ist: Auch die neue Regierung zögert und wackelt aus Angst vor dem, was ihr Kanzler bestreitet: der Spaltung der Gesellschaft.