Die ruhige Art täuscht: Olaf Scholz setzt seinen Machtwillen durch
Niemand sollte sich von der ruhigen Art des neuen Kanzlers täuschen lassen. Mit Machtwillen setzt er seine Politik in langen Linien durch. Der Leitartikel.
Frankfurt – Zwei Bilder zeigen den Regierungsstil von Olaf Scholz. Das erste: Im schwarzen Anzug mit rotgestreifter Krawatte lehnt er sich nach vorn auf das alte Holz der Hamburger Bürgerschaft, dem Parlament der Hansestadt. Die mit dunklem Leder besetzten Stühle auf der Regierungsbank neben ihm bleiben leer. Zwei Wochen im März 2011 hat der frisch gewählte Erste Bürgermeister sich Zeit gelassen, bis er seinen Senat benannte. Eine Machtdemonstration. Er bestimmt Mensch und Zeit, niemand kann ihn hetzen.
Vor diesem Hintergrund mutet es fast rasant an, dass er nun schon zwei Tage vor der eigenen Wahl zum Bundeskanzler die SPD-Ministerien besetzte. Und auch das ist bezeichnend: Erst kurz zuvor hatte er seinen Kandidaten für das Gesundheitsministerium informiert. Das Spiel mit der falschen Erwartung, die Freude an der Überraschung – Scholz liebt das, zumal wenn er seine Karten aus der Position des feststehenden Gewinners ausspielen kann. Es steht zu erwarten, dass diese Ambivalenz noch öfter seine Kanzlerschaft bestimmen wird: Die Nicht-Impulsivität wird in so mancher Krise hilfreich sein, doch steht zu befürchten, dass auch lähmende Phasen langen Abwartens bevorstehen.
Olaf Scholz hat das Bedächtigkeitsproblem des Hanseaten
Das zweite Bild: Scholz sitzt im Juli 2017 mit Merkel, Trump und Putin in der Elbphilharmonie. „Wir können die Sicherheit garantieren“, hat er im Vorfeld des G20-Gipfels versprochen. Es ist das Bedächtigkeits-Problem des Hanseaten, dass er manchmal zu lange schweigt. Aber wenn er spricht, fühlt er sich an sein Wort gebunden, selbst wenn er einer Fehleinschätzung aufgesessen ist und es hätte besser wissen können. Im Schanzenviertel Hamburgs beginnen zu diesem Zeitpunkt die schwersten Ausschreitungen, die die Hansestadt je gesehen hat. Scholz lässt Sicherheitskräfte mit Maschinengewehren aufmarschieren. Es wird die schwerste Wunde seiner Biografie werden.

Christian Lindner hat dieses Gebundensein an eigene Vorstellungen wohlwollend „das starke innere Geländer“ genannt. Deswegen ist es bedeutsam, dass Scholz schon zu Beginn seiner Kanzlerschaft erstmals von einem Diktum abgerückt ist: Er hatte sich im Wahlkampf vehement gegen eine Impfpflicht ausgesprochen. Er, der kaum Fehler zugeben kann, revidiert seine Meinung. Das ist ebenso neu wie die Chance für ein einvernehmliches Regieren in der komplexen Konstellation dieser Koalition.
Olaf Scholz: Es müssen Taten folgen
Nach der Flucht der Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten, im Jahr 2017, hat Olaf Scholz ein Buch vorgelegt. „Hoffnungsland“ lohnt den Blick gerade jetzt, um zu verstehen, entlang welchen Geländers der Kanzler seine Treppe steigen wird. Er entwirft darin ein Programm, in dem Europa eine systematische, rechtsstaatliche Flüchtlingspolitik verwirklicht, in dem Flüchtlingscamps aufgelöst werden, um Menschen nach Quoten in den Ländern der Europäischen Union aufzunehmen. Das ist die festgeschriebene Überzeugung für eine humanere Migrationspolitik. Es müssen Taten folgen.
Fast noch bedeutsamer ist das Schlusskapitel des Buchs, das die Besetzung der SPD-Ministerien quasi vorweggenommen hat. Scholz formuliert darin sein Credo: „Damit Weltoffenheit weiterhin auch von jenen mit kleinen und mittleren Einkommen befürwortet und mitgetragen wird, muss die Soziale Marktwirtschaft ihnen Sicherheit und Perspektiven geben.“
Im Wahlkampf hat Scholz diese Überzeugung ausgeweitet auf eine Bedrohung, die 2017 von ihm noch komplett übersehen wurde: Auch in der Bekämpfung der Klimakatastrophe müsse dies gelten, sonst sei kein Rückhalt für einen massiven Umbau erreichbar.
Olaf Scholz besetzt die Ämter mit Vertrauten – bis auf die Ausnahme Karl Lauterbach
Den Kern hat er in einem Sieben-Punkte-Plan skizziert: Sozialversicherungen mit dem Versprechen einer sicheren Rente, Mindestlohn, Unterstützung von Eltern mit ihren Kindern, durchlässige Bildungsangebote, bezahlbarer Wohnraum, moderne Infrastruktur und ein faires Steuersystem. Der bisherige Finanzminister hat einzig in einem entscheidenden Punkt nachgegeben. Die von ihm geforderte gerechte Beteiligung „sehr hoher Einkommen an der Finanzierung der genannten öffentlichen Aufgaben“ wird mit der FDP nicht zu machen sein. Das ist die Sollbruchstelle dieser Koalition. Und auch der Rest muss erst aus den schwammigen Formulierungen des Koalitionsvertrages ein eingelöstes Versprechen machen.
Alle Ministerien seines Programms hat Scholz mit engen Vertrauten besetzt – oder wie im Fall der Bildung an die FDP gegeben, die nah an seinen Ansichten formuliert. Freigegeben hat er jene Ressorts, die Ideen für die Krisenbewältigung entwickeln müssen. So sind nahezu alle für den Klimaschutz wichtigen Ministerien den Grünen zugefallen. Und in den SPD-geführten Häusern hat er eine einzige Ausnahme gemacht, indem er den schwer steuerbaren Karl Lauterbach mit der Bewältigung der Pandemie beauftragt hat.
Lauterbach sollte Scholz nicht unterschätzen. Seine frisch gewählte Parteispitze und der neue Generalsekretär auch nicht. Niemand sollte das. (Thomas Kaspar)