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NSU-Enttarnung: Die Gefahr bleibt

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Von: Hanning Voigts

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Enver Simsek ist eines von vielen Opfern des NSU-Terrors.
Enver Simsek ist eines von vielen Opfern des NSU-Terrors. © Martin Schutt/dpa

Der NSU und seine Taten sind am 4. November 2011 bekannt geworden. Doch zehn Jahre danach ist der Komplex noch nicht aufgearbeitet, viele Fragen sind noch offen. Der Leitartikel.

Frankfurt – Heute vor zehn Jahren, am 4. November 2011, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit vom „Nationalsozialistischen Untergrund“. Nicht durch polizeiliche Ermittlungsarbeit, nicht durch den Verfassungsschutz, der ein Frühwarnsystem sein will, sondern durch die Suizide zweier Mitglieder des NSU-Kerntrios und den Versand von Bekennervideos durch ihre Komplizin wurde die bittere Wahrheit sichtbar: Dreizehn Jahre lang lebten fanatische Nazis in der Illegalität, unterstützt durch ein rechtes Netzwerk und unbehelligt vom Staat – obwohl dieser das NSU-Umfeld mit V-Leuten durchsetzt hatte. Die Nazis konnten neun rassistische Morde begehen und eine Polizistin töten, Sprengstoffanschläge verüben und sich durch Raubüberfälle finanzieren, weil niemand sie aufhielt. Vor zehn Jahren wurde nicht weniger als ein Totalversagen des Rechtsstaates bekannt.

Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter mussten den völkischen Fanatismus der Nazis und die Untätigkeit des Staates mit ihrem Leben bezahlen. Viele weitere Menschen wurden ihrer Liebsten, ihrer Gesundheit oder ihres Glücks beraubt. Wenn es an einem Tag wie heute eine Sache zu tun gibt, dann ist es, der Ermordeten, der Verwundeten und Traumatisierten zu gedenken.

10 Jahre NSU-Enttarnung: Das Netzwerk ist nicht vollständig bekannt

Der Terror des NSU steht für eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Er hat unübersehbar gemacht, wie groß die Gefahr durch Neonazis seit Bestehen der Republik und besonders seit den 80er Jahren war. Zugleich hat er gezeigt, wie wenig Staat und Gesellschaft in Deutschland diese Gefahr sehen und sie bekämpfen wollten. Der NSU-Komplex ist geprägt durch staatliches Wegschauen und Verharmlosen, durch strukturellen Rassismus in den Behörden, die nach jedem Mord gegen die Opfer ermittelten, durch Geheimdienste, die primär an den Schutz ihrer Quellen dachten.

Zum NSU-Komplex gehören aber auch Medien, die polizeiliche Projektionen über „migrantische Parallelgesellschaften“ oder eine „türkische Mafia“ unkritisch und teils mit wohligem Schauer verbreiteten – und eine träge weiße Mehrheitsgesellschaft, die den Betroffenen nicht zuhörte und nicht unruhig wurde, solange der Terror Menschen mit Migrationsgeschichte traf.

Zehn Jahre nach Bekanntwerden des NSU muss konstatiert werden, dass der Komplex nicht aufgearbeitet ist. Die drängende Frage der Hinterbliebenen, warum gerade ihre Angehörigen ermordet wurden, ist nicht beantwortet. Das Netzwerk des NSU ist nicht vollständig bekannt. Auch durch geschredderte Akten ist die Verstrickung des Staates nicht geklärt. Sicher ist seit 2011 Einiges passiert, haben Untersuchungsausschüsse tief in deutsche Abgründe geblickt, Sicherheitsbehörden ihre Prioritäten hinterfragt und bewaffnete rechte Strukturen ausgehoben.

10 Jahre NSU-Enttarnung: Die rechten Terroristen morden unvermindert weiter

Aber die rechten Terroristen haben seit 2011 unvermindert weiter gemordet: der Anschlag in Halle, der Anschlag in Hanau, der Mord an Walter Lübcke. Dazu unzählige rassistische Übergriffe, eine rechte Mobilmachung durch Pegida, die Neue Rechte und die AfD bis weit hinein in alle Teile der deutschen Gesellschaft, die weiter nicht wahrhaben will, wie tief sie von rassistischen Ansichten und Praxen geprägt ist.

Der NSU mache weiter, hat Ibrahim Arslan, der 1992 den Brandanschlag von Mölln überlebt hat, neulich in einem FR-Interview gesagt. Solange die Gesellschaft sich nicht solidarisch hinter die Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus stelle und den Neonazis ernsthaft den Kampf ansage, sei der Terror nicht vorbei. Betrachtet man die bis heute ungenügende Aufarbeitung des NSU-Komplexes und vergegenwärtigt sich dazu, was in den vergangenen Jahren an rechten Einstellungen und Strukturen in Polizei und Bundeswehr aufgeflogen ist, wie weit die Gesellschaft in einigen Teilen nach rechts gerückt ist, wird es schwer, Arslan zu widersprechen. Vielmehr wird deutlich: Wenn die deutsche Gesellschaft 2011 wirklich die Schlüsse aus dem NSU gezogen hätte, sähe die Republik heute anders aus.

Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel machen vor allem die Betroffenen selbst. Die Hinterbliebenen der NSU-Opfer erheben weiter ihre Stimme, die Opfer von Hanau kämpfen für ihre Forderung nach Aufarbeitung und Konsequenzen, Überlebende von Anschlägen seit den 90er Jahren vernetzen sich, um sich gegenseitig zu stützen und die Mehrheitsgesellschaft wachzurütteln. Die Stimmen der Betroffenen von Rassismus erreichen die Schulen, Behörden, Redaktionen und Unternehmen. Erst wenn dieser Rassismus zurückgedrängt wird, ist der NSU-Komplex bewältigt. (Hanning Voigts)

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