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Mut zum Boykott: Bisherige Sanktionen beeindrucken Putin kaum

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Von: Joachim Wille

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Viele Menschen, wie diese hier Mitte März in Hamburg, sind für ein Gasembargo.
Viele Menschen, wie diese hier Mitte März in Hamburg, sind für ein Gasembargo. © Joerg Boethling/Imago

Kohle hin – Öl her: Nur ein schneller Stopp russischer Gaskäufe schadet Moskau wirklich. Und er wäre möglich. Der Leitartikel.

Die Vorstellung ist nicht zu ertragen. Deutschland und Europa stabilisieren mit ihren Euro-Milliarden für Gas, Öl und Kohle ein Regime, das einen an Grausamkeit kaum zu überbietenden Krieg in Europa führt. Die Nachrichten aus der Ukraine werden immer schrecklicher, die Kriegsverbrechen, die Putin ausführen lässt, schockieren die Öffentlichkeit. Spätestens jetzt steht die Frage nach einem Erdöl- und Erdgasboykott auf der Tagesordnung. Denn alles, was der Westen bisher getan hat, um die Gräuel zu stoppen, ist zu wenig. Dabei geht es um „Gas oder Gewissen“, wie die FR die Konfliktlage gerade treffend beschrieb.

Eine direkte Militärintervention wie vor zwei Jahrzehnten in Bosnien und dem Kosovo verbietet sich. Der Aggressor ist eine Nuklearmacht, und Wladimir Putin hat bereits mit dem Einsatz von Atomwaffen im Fall einer „Provokation“ durch die Nato gedroht. EU und USA haben daher, neben diplomatischem Druck für Waffenstillstandsverhandlungen, nur zwei Optionen: weitere Waffenlieferungen an die Ukraine und härtere Wirtschaftssanktionen.

Ukraine-Krieg: Moskau kassiert noch immer Milliarden für Energielieferungen

Die bisherigen Sanktionen haben Russlands Wirtschaft bereits spürbar geschadet, doch Putin und seine militärischen Handlanger beeindrucken sie nicht wirklich. Auch der jüngst von der Europäischen Union beschlossene Boykott von Kohleimporten, der zudem erst in vier Monaten in Kraft tritt, wird das nicht ändern. Die EU führt russische Kohle für vier Milliarden Euro im Jahr ein; das ist weniger als sie für den Import von russischem Öl und Gas in einer Woche ausgibt. Noch immer kassiert Moskau pro Tag fast eine Milliarde für die Energielieferungen in den Westen. Das Minus bei der Kohle dürfte bei Putin nur ein Schulterzucken auslösen.

Das heißt: Die EU und Deutschland als ihre größte Volkswirtschaft müssen den generellen Energieboykott gegen Russland schnellstmöglich auf den Weg bringen. Für sein Öl könnte Moskau andere Kunden finden, Indien hat sich schon interessiert gezeigt. Umso mehr kommt es aufs Gas an, bei dem Putin den Hebel nicht so einfach, etwa nach China, umlegen kann, weil die nötigen Pipelines fehlen. Die bisherige Ampel-Strategie, bei Gas sogar erst bis 2024 aus dem Russland-Import auszusteigen, spielt Putin in die Hände. Denn Moskaus Einnahmen steigen wegen der explodierten Gaspreise trotz rückläufiger Liefermengen. Bleibt das so bis 2024, könnten der Staat Ukraine dann von der Landkarte verschwunden und die Region unbewohnbar sein.

Reaktion auf den Ukraine-Krieg: Für den Gas-Boykott braucht Deutschland verschiedene Maßnahmen

Der Preis für einen Erdgasboykott ist hoch. Man darf jedoch nie vergessen, dass der Preis, den die Ukrainer:innen bezahlen, um vieles höher ist. Ökonomen schätzen, dass ein Gasboykott die Wirtschaft im besonders stark vom Russen-Gas abhängigen Deutschland um fünf Prozent einbrechen lassen könnte. Das ist dramatisch, aber vergleichbar mit dem Rückgang durch die Pandemie. Und dieser konnte durch Staatshilfen so abgefedert werden, dass die ganz große Krise vermieden wurde. Vermutlich hat die Bundesregierung längst ein Konzept in der Schublade, wie das auch im Fall eines Gasboykotts funktionieren könnte. Denn damit, dass Putin selbst den Hahn abdreht, musste sie seit Kriegsbeginn rechnen.

Das russische Erdgas deckt derzeit laut Bundesregierung noch 40 Prozent des Verbrauchs, nach 55 Prozent 2021. Um einen Boykott durchhalten zu können, braucht es eine Kombination verschiedener Maßnahmen. Darunter auch Einsparungen, zu erreichen durch Infokampagnen und Anreize, inklusive des „Frierens für den Frieden“. Zudem eine Ausweitung der Unternehmenshilfen, wie jetzt von der Ampel bereits wegen der Energieverteuerungen geplant, dazu großzügige Kurzarbeitsregelungen sowie höhere Zuschüsse für Haushalte, am besten ein „Energiegeld“. Die Ampel muss insgesamt sicherstellen, dass der soziale Frieden nicht kippt. Es wäre nun Zeit, um die obersten Einkommensschichten mit einem „Energiewende“-Soli direkt an der Finanzierung zu beteiligen. Und es muss natürlich garantiert sein, dass lebenswichtige Produktionen, etwa für Arzneimittel, Nahrungsmittel und Dünger, weiterlaufen können.

Und noch eins: Zentral ist es, dass die Ampel eine Verständigung auf EU-Ebene herbeiführt, wie der Gasboykott gemeinsam abgefedert werden kann. Nicht alle Länder sind so stark von russischer Energie abhängig wie Deutschland, Italien oder Österreich. Daher müsste das in der Union verfügbare Erdgas so verteilt werden, dass nicht einzelne Länder oder Industrien abgehängt werden. Für manche mag das nach Kriegs-Planwirtschaft klingen. Aber was erleben wir gerade anderes als einen Krieg, in dem die EU bereits Partei ist? (Joachim Wille)

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