Reflexe nach Brokstedt: Die falsche Debatte wird geführt
Die Gewalt in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein wird von Rechten für Hetze genutzt. Nötig wäre eine Debatte ohne Ausgrenzung. Der Leitartikel.
Herkunft macht keine Täter. Niemand wird als Straftäter geboren, und ein Pass sagt nichts über die Gewalttätigkeit einer Person aus. Diese Erkenntnisse sollten selbstverständlich sein. Das sind sie aber offensichtlich nicht in einer Gesellschaft, in der die politische und publizistische Rechte den Kampf gegen Migration zu ihrem Hauptthema erklärt hat. Es ist ein Muster, das sich seit Jahren wiederholt.
Nun hat sich für die rechten Populisten ein neuer, schrecklicher Anlass gefunden. Im Regionalzug von Kiel nach Hamburg hat ein Mann zwei Menschen erstochen, eine 17-jährige Jugendliche und deren 19-jährigen Bekannten. Der Täter verletzte mehrere weitere Menschen. Eine furchtbare Tat. Ein Verbrechen wie es, wenn möglich, künftig verhütet werden muss.
Nach Angriffen mit Messer im Zug: Erneute Integrationsdebatte
Wieder ist der Täter ein Mann, wie meistens bei Verbrechen. Hebt in Deutschland jetzt eine Debatte darüber an, wie gefährlich Männer sind und was zur Prävention gegen solche Taten getan werden müsste? Nein, seltsamerweise nicht. Dabei ist dies die auffälligste Gemeinsamkeit der Täter bei fast allen schweren Straftaten.

Deutschland folgt einem anderen Reflex. Es führt eine Debatte über Integrationsprobleme und Abschiebungen. Weil der mutmaßliche Täter ein staatenloser Palästinenser war, der noch vor wenigen Tagen wegen eines Körperverletzungsdelikts in Haft saß. Einen Tag nach den Messerstichen teilte die Polizei mit, die Hintergründe der Tat seien weiterhin unbekannt. Da tobte bereits seit Stunden der rechte Mob in den sozialen Netzwerken. Für die AfD wurde das Leben dieser beiden jungen Menschen „ausgelöscht durch die unverantwortliche und tödliche Migrationspolitik dieser Bundesregierung“. Der giftige Boulevardjournalist Julian Reichelt assistierte, die Migrationspolitik sei „mörderisch“.
Messer-Angriff auf Passagiere im Zug: Es geht um Emotionen, nicht um Fakten
Es ist eine unverantwortliche Stimmungsmache, und das Schlimme ist: Die Beteiligten wollen genau das erreichen. Sie schüren Wut auf Migranten und Migrantinnen, insbesondere gegen Flüchtlinge, und gegen alle Politiker und Politikerinnen, die sich für eine humanitäre Aufnahme von Menschen einsetzen. Die Gewalt wird instrumentalisiert für Hass.
Der geschmeidige Fernsehmoderator Markus Lanz gefiel sich noch am Mittwoch darin, die Taten für eine Migrationsdebatte auszunutzen. In seiner Sendung wies der Psychologe Ahmad Mansour treffend darauf hin, dass wir „in einer postfaktischen Gesellschaft“ lebten. Mit anderen Worten: Für viele Menschen seien „die Fakten erstmal unwichtig“. Es gehe ihnen um Emotionen. Das hätte eine Warnung davor sein können, einen Fall zum Anlass für politische Forderungen zu nehmen, über den nur wenige Fakten bekannt waren. Doch die Warnung verfing nicht. Wozu Fakten?
Mann greift Personen mit Messer im Zug an: Generalverdacht gegen Ausländer ist falsch
Dabei sollte die jüngste Vergangenheit gezeigt haben, wie leicht man sich ohne Faktenwissen aufs Glatteis verirren kann. Kurz nach den Ausschreitungen in Berlin an Silvester sah es so aus, als wären 100 Ausländer verdächtig und nur halb so viele Deutsche. Wenige Wochen später hatte sich die Zahl der Tatverdächtigen deutlich reduziert, und es stellte sich heraus, dass die meisten Tatverdächtigen einen deutschen Pass hatten. Ein Generalverdacht gegen Ausländer war insofern nicht nur politisch falsch, sondern auch sachlich nicht gedeckt.
Ähnliches gilt für die jetzt angezettelte Abschiebedebatte. Die Rechte will geduldete Menschen außer Landes schaffen. Dabei können Straftäter bereits abgeschoben werden, wie sich erst am Donnerstag wieder gezeigt hat, als der Mörder des Modeschöpfers Rudolph Moshammer in den Irak gebracht werden sollte. Doch es gibt Grenzen der Abschiebung. Dazu gehört jene im aktuellen Fall: Wer staatenlos ist wie der nach der Bluttat im Zug Festgenommene, den nimmt in der Regel kein Land auf.
Nach Messer-Angriff in Zug: Debatten sollten nüchtern geführt werden
Ja, wir müssen darüber sprechen, wo Integration gelingt und wo nicht. Darüber, wie die Gesellschaft auseinanderfällt. Wie Milieus nicht mehr miteinander gesprächsfähig sind. Wie sich Parallelgesellschaften von prekär Beschäftigten auf der einen Seite und Wohlstandsgesättigten auf der anderen Seite entwickeln.
Wir müssen auch über unterschiedliche Gesellschaftsbilder sprechen. Über die Gefahr eines Antisemitismus, der von ganz rechts, von ganz links und von Ideologien aus dem Nahen Osten propagiert wird. Über die Abwertung von Frauen, bei der sich das rechtskonservative deutsche Lager und konservative Migranten gar nicht fern stehen. Aber diese Debatten sollten nüchtern geführt werden. Sie dürfen keinesfalls eine große Gruppe in der Gesellschaft ausgrenzen, die Menschen mit einer eigenen oder familiären Migrationsgeschichte. Eine schwere Straftat ist der schlechteste Anlass, wenn das gelingen soll. Denn Herkunft macht keine Täter. (Pitt von Bebenburg)