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Verschärfte Strafen sind billig -  die Gesellschaft muss sich der strukturellen Diskriminierung stellen

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Von: Bascha Mika

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Sexualverbrecher kommen oft aus der Mitte der Gesellschaft. Der Ruf „Sperrt sie weg!“ lenkt nur von den notwendigen Veränderungen ab. Der Leitartikel.

Wenn Populismus bei politischen Entscheidungen Pate steht, freut sich die „Bild“-Zeitung. „Nach Bild-Forderung: Neue Knallhart-Strafen für Kinderschänder“, titelte das Blatt. Anlass für’s Frohlocken war das Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, das Bundesjustizministerin Christine Lambrecht kürzlich vorstellte. Es sieht härtere Strafen für Kindesmissbrauch sowie für den Besitz von und den Handel mit Kinderpornografie vor.

Lange hatten sich die Ministerin und ihre sozialdemokratische Partei dieser Verschärfung verweigert. Nach Staufen, Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster – Tatorte massenhafter sexualisierter Ausbeutung von Kindern – knickte sie ein. Zu groß war offenbar der öffentliche Druck. Denn nichts ist leichter, als Stimmung zu machen, wenn unschuldige Wesen zu Opfern werden. Darauf verstehen sich die Boulevardmedien, die Christdemokraten allerdings auch. So lässt sich beim Publikum billig punkten.

Würde die Todesstrafe wieder eingeführt, sähe ein Gutteil der Deutschen Täter aus diesem Umfeld gern hingerichtet. Bei keinem anderen Verbrechen kommt nach jedem aufgedeckten Fall der Ruf nach Strafverschärfung so schnell und reflexhaft. Einzelne, abscheuliche Taten, begangen von einzelnen, widerlichen Tätern – sperrt sie weg! Möglichst für immer. Dann ist die Welt wieder in Ordnung.

Nichts ist in Ordnung. Stattdessen ist ein sattsam bekanntes Ritual zu beobachten: eine Gesellschaft, die sich der unangenehmen Analyse verweigert und vor der Verantwortung wegduckt.

Wie sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder ein klassenloses Verbrechen. Ein Verbrechen, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt und in ihrer Mitte stattfindet. Das nicht auf einzelne Schichten, soziale Randgruppen, kulturelle Milieus oder Berufsbranchen beschränkt ist. Das seine Tatorte überall findet, in der Wohnung, am Arbeitsplatz, in Schul- und Kirchenräumen, im Sportverein.

Frauen und Kinder werden getötet, verletzt, erniedrigt, gedemütigt, um das Machtbedürfnis der Täter zu befriedigen. So spiegeln diese Taten auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wider. Bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen sind die Täter zu 99 Prozent männlich. Bei Kindern als Opfer sind es kaum weniger. Jeden Tag sind 43 Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt, so die Kriminalstatistik 2019. Wie groß mag wohl die Dunkelziffer sein? Jeden Tag versucht ein Mann, seine Partnerin zu töten; an jedem dritten Tag gelingt es. Wie viele Morde, wie viele Fälle sexueller Ausbeutung kommen wohl in Corona-Zeiten hinzu?

Doch spricht irgendjemand davon, dass wir in dieser Gesellschaft ein Männerproblem haben? Dass Männer ein Problem haben? Welcher Politiker, welche Politikerin fordert, die Basis dieser strukturellen Gewaltverhältnisse zu zerstören? Die männlich dominierte Gesellschaft zu transformieren und sie damit zu überwinden? Wieviel einfacher ist es dagegen, hart gegenüber einzelnen Tätern aufzutreten, die aus dem Dunkelfeld ans Licht gezerrt werden.

Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Werteorientierung und Gewalt ist evident. Wo die Selbstbestimmung von Frauen, die Unverletzlichkeit von Kindern nicht gewährleistet ist, wo sexualisierte Gewalt als Mittel zu Diskriminierung und männlicher Machtsicherung eingesetzt wird, stimmt etwas nicht mit den Werten. Ebenso evident ist dabei die Verknüpfung von alltäglichem Sexismus, sexueller Belästigung und Gewalt. Entstammen sie nicht dem gleichen Boden? Einem männlichen Selbstverständnis, das andere zum Objekt der eigenen Begierden herabwürdigt?

Was also kann eine freiheitliche Gesellschaft tun, um dem entgegenzuwirken?

Selbst der Alltagsmann weiß eigentlich, dass die Zeiten, wo er Frauen – und Kinder – gefahrlos ausbeuten kann, im Grunde vorbei sind. Rational gesehen ist ihm völlig klar, dass er formal keinen Anspruch auf Dominanz mehr hat. Ebenso ist ihm bewusst, dass sexistische Äußerungen und sexuelle Belästigung von Frauen nicht mehr ohne weiteres hingenommen werden. Also demonstrieren viele Männer guten Willen und betonen, wie viel sie inzwischen über Geschlechter- und Machtverhältnisse gelernt haben. Oberflächlich betrachtet, scheinen sie ihr Verhalten nicht an klassischen Rollenvorstellungen auszurichten.

Doch wie viel gilt vernunftgesteuertes Verhalten, wenn es um Sexualität geht? Um einen Bereich, der prädestiniert dafür ist, dass Unconscious Bias – unbewusste Verzerrungen – rationale Einsichten überlagern und internalisierte Stereotype zum Zuge kommen? Wie zum Beispiel, dass es männliches Recht ist, sich sexuell ungehemmt ausleben zu dürfen.

Angesichts der real existierenden Gewaltverhältnisse liegt die Vermutung nahe, dass es mehr braucht als verbale Einsicht, um diese tief eingeprägten Verhaltensmuster zu ändern. Und es braucht eine Gesellschaft, die bereit ist, sich den strukturellen Diskriminierungen zu stellen, der die Gewalt entspringt.

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