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Streit um Rentenreform in Frankreich: Keine faulen Gallier

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Von: Stefan Brändle

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Menschen nehmen am 7. Februar in Paris an einem Protest gegen die geplante Rentenreform teil.
Menschen nehmen am 7. Februar in Paris an einem Protest gegen die geplante Rentenreform in Frankreich teil. © Michel Euler/dpa

Die Rentenreform treibt die Menschen in Frankreich auf die Straßen. Hinter den Protesten steckt mehr, als es zunächst scheint.

Diesmal liegt Frankreich im politischen Ideenwettstreit nicht vorn. Mit der geplanten Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahren hinkt Präsident Emmanuel Macron vielen EU-Staaten hinterher. Und während die meisten beim Rentenalter 65 Jahren angelangt sind und Deutschland schon darüber hinaus, wollen die Französinnen und Franzosen, die seit Januar millionenfach gegen die Reform auf die Straße gehen, nicht einmal die Grenze von 64 Jahren schlucken.

Doch halt: „Wir sind keine faulen Gallier“, notierte Ségolène Royal in einem Zeitungsbeitrag. Die sozialistische Ex-Präsidentschaftskandidatin hat recht: Aufs Jahr gerechnet liegen die Menschen in Frankreich (1520 Stunden) vor den Deutschen (1360 Stunden). Unsere Nachbarinnen und Nachbarn arbeiten dafür aufs Leben gerechnet weniger lang: Sie starten spät in den Beruf, arbeiten pro Woche nur 35 Stunden und gehen statistisch früh in den Ruhestand.

Macron begründete seine Reform deshalb mit der simplen Feststellung: „Wir müssen mehr arbeiten.“ Früher seien vier Erwerbstätige auf einen Rentner gekommen, heute seien es nur noch 1,7 Aktive. Budgetminister Gabriel Attal brachte es auf den Punkt: „Rentenreform oder Staatspleite“.

Streit um die Rentenreform in Frankreich: Gewerkschaft spricht von Ungerechtigkeit

Die Gegenseite sieht es anders: „Wenn die Firmen ihre Senioren systematisch ausrangieren und in die Frühpension verbannen, wie es in Frankreich gang und gäbe ist, bringt es nichts, das Rentenalter zu erhöhen“, erklärt Philippe Martinez von der Gewerkschaft CGT. Außerdem sei das Rentensystem gar nicht defizitär, fügt der Boss der mächtigsten Arbeitnehmerorganisation im Land an.

Das wiederum bestreitet der Unternehmerverband Medef. Der Fehlbetrag existiere durchaus, nur werde er verdeckt. Die Staatskasse subventioniere die Beamtenpensionen mit 30 Milliarden Euro im Jahr, ohne dies klar auszuweisen. Arbeiterinnen und Arbeiter zahlten also doppelt – mit seinen Steuern für die Angestellten des öffentlichen Dienstes, mit seinen Beiträgen für die eigene Rente. Das sei ungerecht.

Ungerecht: ein großes Wort, das die ganze Debatte überlagert. Laurent Berger von der gemäßigten Gewerkschaft CFDT wird nicht müde vorzurechnen, dass Arbeiter:innen und Handwerker:innen durch die Erhöhung des Rentenalters ungerecht behandelt würden. 20 Prozent stürben, bevor sie das Alter von 64 erreichten. Bei den Büroangestellten seien das nur fünf Prozent.

Rentenreform in Frankreich: Forderung nach höherer Rente für Reiche

Die Gegenseite fragt dagegen: Ist es gerecht, wenn die Boomer heute mit 62 früh und bequem in Rente gehen, den heute noch jungen Menschen aber ein überschuldetes Rentensystem hinterlassen? Das fragt auch Premierministerin Elisabeth Borne, die von der Linken kommt. In ihrem früheren Lager wird dagegen argumentiert, Mütter mit oftmals fehlenden Beitragsjahren würden durch die Reform finanziell benachteiligt.

Viele Erwerbstätige verstehen ob dieser Argumenteschlacht nur eins: Sie sollen ohne Gegenleistung länger arbeiten. Vielen Jungen will etwas nicht in den Kopf: Während der Covidzeit, aber auch danach hatte der Präsident dreistellige Milliardenbeträge in die Wirtschaft gebuttert. Und jetzt sollen die kleinen Beitragszahler:innen wegen eines Fehlbetrages von paar lausigen Milliarden gleich zwei Jahre länger malochen?

Gewiss, den Rentenbankrott wollen beide Seiten verhindern. Aber nicht auf die gleiche Weise. Nicht die Arbeiter mit chronischen Altersleiden sollten länger arbeiten – vielmehr müssten die gesünderen und betuchteren Bürger mehr beisteuern, fordert Thomas Piketty. Der Autor von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ fordert eine Umverteilung auch im Rentenbereich, wie mit der Steuerprogression: Die Reichen müssten sich mit höheren Beitragssätzen erkenntlich zeigen.

Proteste in Frankreich: Es geht nicht nur um die Höhe der Renten

Premierministerin Borne strebt die Gerechtigkeit nicht von oben an, sondern von unten her: Ihre Reform hebt die Mindestrenten von 960 auf 1200 Euro im Monat an. Macht das die Reform gerechter? Sicher ist: Die Regierung ist erst jetzt, unter dem Druck der Straße, zu Konzessionen bereit, die ihr früher nicht in den Sinn gekommen wären. Diese Woche hat Borne zum Beispiel das Rentenalter für Leute, die schon im Alter von 20 Jahren gearbeitet haben, auf 63 Jahre gesenkt. Das allein zeigt, dass der soziale Kampf nützlich ist.

Dabei geht es längst nicht nur um die Höhe der Renten. Es geht auch um etwas, was die Französinnen und Franzosen beherrschen, schätzen und auf keinen Fall verlieren möchten: das Savoir-Vivre. Also jene Lebenskunst, die sich nicht am Bürotisch oder Fließband verwirklicht. Bei einer Pariser Demo trug ein Mädchen die Inschrift vor sich her: „Alles, was wir wollen, ist, glücklich zu sein.“ Naiv? Gar nicht, die junge Frau reckte dazu aufmüpfig die Faust.

Und in diesem Kampf ist Frankreich immer noch führend. (Stefan Brändle)

Ob die Regierung an ihrer Reform festhalten kann, bleibt ungewiss. Der Druck auf Macron wächst angesichts der Rentenpläne in Frankreich weiter.

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