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Kasachstan: Aufstand im Nachbarland macht Russland nervös

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Von: Viktor Funk

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Menschen in Kasachstan protestieren gegen das autoritäre Regime.
Menschen in Kasachstan protestieren gegen das autoritäre Regime. © Vladimir Tretyakov/dpa

Autoritäre und kleptokratische Staaten wie Kasachstan sind instabil, wenn sie mit großen Problemen wie einer Pandemie konfrontiert sind. Der Leitartikel.

30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion sind von den 15 Republiken des Imperiums nur drei demokratisch: Estland, Lettland, Litauen. Drei sind auf dem Weg zu Demokratien – Ukraine, Georgien und die Republik Moldau. Zwei – Armenien und Kirgisistan – zeigen vielversprechende Tendenzen; die übrigen gelten als mehr oder weniger autoritär und mindestens Belarus ist eine lupenreine Diktatur.

Alle diese problembeladenen Staaten sind der EU viel näher als der mediale europäische Blick es vermuten lässt. Europas Nachbarn durchlaufen seit 30 Jahren schmerzhafte Wandlungsprozesse, und in Kasachstan ist jetzt sichtbar, wie dramatisch solch ein Wandel sein kann, wenn die politischen Eliten demokratische Mitbestimmung unterdrücken.

Viel ist die Rede darüber, dass Russland nervös werde, weil – wieder – in seiner Nachbarschaft ein Volk einem autokratischen Regime zeigt, dass es nicht alles mit sich machen lässt. Das ist richtig: Für den Kreml ist jede politische Ruhestörung in seiner Nähe ein Problem. Sehen die Menschen in Russland doch so, dass Widerstand und Wandel möglich sind.

Interessanter ist aber die Frage, welche Reaktionen, welche Strategien die EU für solche politischen Umbrüche parat hat. Erkennbar ist bisher keine.

Kasachstan: Weiterer ehemaliger sowjetischer Staat öffnet sich

Dabei lehrt die Geschichte, dass früher oder später in allen ehemaligen sowjetischen Staaten deutliche Veränderungen erfolgen. Wie sie erfolgen, das ist die entscheidende Frage. Bisher zeigen sich nur, was die Zentralasien-Expertin Erica Marat in einem Interview mit tagesschau.de auf den Punkt bringt: „In offeneren Gesellschaften wie Georgien, der Ukraine und Kirgisistan waren diese Proteste früher zu beobachten, in geschlosseneren Gesellschaften wie Kasachstan und Belarus etwas später. Aber jedes Land, das sich öffnen will, muss diesen Prozess durchlaufen.“

Und jedes Land muss sich öffnen. Handel, Arbeitsmarkt, Demografie – entweder wegen Mangel oder wegen Überschuss sind alle postsowjetischen Staaten gezwungen, sich zu öffnen. Bisher konnten die meisten Regime eine gewisse politische Stabilität garantieren, weil entweder der materielle Wohlstand dank innerer wirtschaftlicher Entwicklung wuchs oder durch Arbeitskräfte-„Export“ Frustpotenzial wegen fehlender Lebensperspektive gemildert wurde. Auch der Einsatz von brutaler Gewalt und kleinere Reförmchen, die kleinere Protesten beruhigten, stabilisierten die Systeme. Doch nachhaltig stabil sind sie alle nicht. In keinem dieser nicht-demokratischen Staaten ist die Übergabe von Macht so geregelt, dass sie ohne größere gesellschaftliche Kämpfe erfolgt.

Kasachstan: Autoritäre Gebilde sind bei großen Problemen höchst instabil

Im Falle Kasachstans überrascht die Dynamik der Eskalation. Von ersten Protesten bis zu brennenden Stadtverwaltungen und ersten Toten vergingen nur vier Tage. Es ist nicht ausgeschlossen, dass konkurrierende Eliten sich der Straße bedienen und Gewalt schüren.

Noch bis vor wenigen Tagen war Kasachstan ein interessantes Beispiel dafür, wie eine autoritäre Machtübergabe vielleicht klappen könnte. Als der ehemalige Kommunist und spätere Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, 2019 die Macht an Kassym-Jomart Tokajew teilweise übertrug, schien dies zu funktionieren.

Dann kam die Pandemie, die wirtschaftlichen Probleme wuchsen und mit ihnen die Sorgen der Menschen. Und jetzt zeigt sich, dass autoritäre, kleptokratische Gebilde höchst instabil sind, wenn sie mit großen Problemen konfrontiert sind.

Kasachstan: Russland prescht im Chaos vor, die EU zögert

Wie ernst die Lage ist, wird daran deutlich, dass die kasachische Führung auf Demonstrierende schießen lässt und Russland Militär zur „Befriedung“ entsendet. Verstörend sind auch die Nachrichten darüber, dass in der Finanzmetropole Almaty 13 Sicherheitskräfte umgebracht wurden, zwei von ihnen geköpft. Wer die Täter sind, ist unklar – klar dagegen ist, dass das Regime diese Opfer als Rechtfertigung für das eigene brutale Vorgehen missbrauchen wird.

In diesem Chaos prescht Moskau mit der Entsendung von Soldaten vor, während die EU sich auffallend zurückhält. Mag sein, dass das den anstehenden Gesprächen zwischen den USA und Russland sowie der Nato und Russland geschuldet ist. Richtig ist das dennoch nicht.

EU muss demokratische Kräfte in östlichen Nachbarstaaten wie Kasachstan fördern

Dass Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion so viele Nachfolgestaaten undemokratisch sind, hat auch was mit europäischer Ignoranz und falschen Prioritäten zu tun: Die EU muss endlich ein tiefes Interesse an ihren östlichen Nachbarn entwickeln, deren Jugend und demokratische Kräfte fördern und Handelsbeziehungen an ethische Werte knüpfen. Dazu wird es langsam Zeit – 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion. (Viktor Funk)

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