Ärger in Israel: Die Bundesregierung muss Tacheles reden

Israels Regierung will die Demokratie einschränken, um das Westjordanland zu schlucken. Der Widerstand braucht Hilfe von außen. Der Leitartikel.
Tel Aviv – Justizreformen treiben nicht unbedingt die Massen auf die Barrikaden. Anders in Israel, wo seit zwei Monaten allwöchentlich Menschen diverser politischer Couleur gegen ein Regierungsunterfangen demonstrieren, das zwar als Generalüberholung des Rechtsystems verkauft wird, aber mit der angepeilten Aushebelung des Gewaltensystems einem Coup d’etat gefährlich nahekommt.
Am Samstag waren es mehr denn je, die protestierten, in Tel Aviv um die 150 000 Bürgerinnen und Bürger, dazu einige Zehntausend in anderen israelischen Städten. Zum Vergleich: In Deutschland wären das in Relation zur Bevölkerungszahl rund 1,5 Millionen Leute.
Demonstrationen in Israel: Netanjahu bezeichnet Protestierende als „Rowdys“
Schwer vorstellbar, dass Berlin über eine solch kritische Menge hinweg regieren könnte. Die ultrarechte, ultrareligiöse Koalition in Jerusalem indes ist nicht kompromissbereit. Premier Benjamin Netanjahu ließ sich gar hinreißen, die Protestierenden als „Rowdys“ hinzustellen, die lediglich das Wahlergebnis nicht akzeptieren wollten.
Sein Parteifreund vom Likud, Justizminister Yariv Levin, zieht derweil kaltblütig sein generalstabsmäßig eingefädeltes Vorhaben durch, das Oberste Gericht – in Israel die zentrale Kontrollinstanz – zu entmachten. Es geht ihm darum, die Regierungsmehrheit zur letzten Instanz zu erheben. Sie soll höchstrichterliche Entscheidungen wieder kippen können und künftig nach Bedarf Grundgesetze erlassen, an die das Oberste Gericht gar nicht erst rühren darf. Viktor Orban lässt grüßen.
In Israel leidet die Demokratie unter dem gefräßigen Machthunger
Zwei Elemente dieser „Justizreform“ sind bereits in erster Lesung durch. Der politische Wille dahinter hat unverkennbar mit geradezu gefräßigem Machthunger zu tun. Israels in weiten Teilen rechtsextreme und nationalreligiöse Regierung ist dabei, das Land nach ihrem Gusto umzugestalten, ohne sich um demokratische Gepflogenheiten zu scheren.
Netanjahu, früher mal ein Verteidiger des Rechtsstaats, hat zudem als Zusatzmotiv, irgendwie seinem Korruptionsprozess zu entkommen. Dem Justizapparat Fesseln anzulegen, könnte zumindest einen außergerichtlichen Deal erleichtern, das Verfahren zu beenden.
Israel: Justizreform soll Westjordanland greifbar machen
Schon das sind Gründe genug, warum Israelis auf die Straße gehen. Nämlich um zu verhindern, dass ihr Land in eine illiberale Demokratie nach ungarischem Modell abdriftet. Ein entscheidender Aspekt allerdings wird meist geflissentlich übersehen, sowohl in der schwachen parlamentarischen wie der vielfältigen außerparlamentarischen Opposition: Besagte Justizreform zielt nicht zuletzt darauf ab, die besetzten Teile des Westjordanlandes zu schlucken und die seit Jahren voranschleichende Annexion zu passendem Zeitpunkt gesetzlich abzusichern.
Dass zu diesem Zweck das Oberste Gericht an die kurze Leine gehöre, hat Justizminister Levin offen bekannt. Zumal es ab und an Petitionen zustimmte, die sich etwa gegen die Enteignung von palästinensischem Privatboden zugunsten israelischer Siedlerbauten richteten.
Annexionspläne in Israel angeblich zurückgestellt
Offiziell hat Israel die Annexionspläne vor drei Jahren zurückgestellt – damals um den Weg für die Abraham-Abkommen mit den Golf-Emiraten, Marokko und Sudan freizumachen. Tatsächlich gelang Bezalel Smotrich, Chef des Finanzressorts und nebenher Zweitminister im Verteidigungsministerium, jetzt allerdings ein Schritt voran, als er sich die Zuständigkeit für zivile Angelegenheiten der Militärverwaltung übertragen ließ.
Faktisch ist damit Smotrich, ein rechtsextremer Siedlerideologe, Gouverneur der Westbank, der dort nach Gutdünken schalten und walten kann. Wer will da noch behaupten, die Militärbesatzung sei temporär?
Israel und Palästina: Hoffnung auf Zwei-Staaten-Lösung schwindet
An eine Zwei-Staaten-Lösung – nach wie vor gepriesen von den USA und Europa – glaubt eh nur noch eine schwindende Zahl von Palästinenser:innen (wie ebenso Israelis). Gewalt hat wieder Konjunktur, auch in Reaktion auf israelische Armeerazzien in Autonomiestädten wie zuletzt in Nablus, wo stundenlange Gefechte mit palästinensischen Militanten zwölf tödlich Getroffene und über hundert Verletzte zurückließen, darunter zahlreiche Zivilisten. Dass die programmierte Eskalation weitergeht, zeigte der Sonntag, wo zwei Israelis bei einem Schussangriff unweit von Nablus ums Leben kamen.
Vor diesem mehrfach düsteren Hintergrund sind Zweifel geboten, ob das zeitgleich stattfindende Treffen von israelischen und palästinensischen Sicherheitsoffiziellen in der jordanischen Hafenstadt Akaba zu nachhaltiger Deeskalation führen kann – so richtig der von Amman, Kairo und auch Washington unterstützte Versuch ist.
Demonstrationen in Israel: Ampelkoalition sollte Tacheles reden
Konfliktmanagement allein dürfte kaum ausreichen, um die radikalen Kräfte zu zügeln, die auf israelischer wie palästinensischer Seite zündeln. Dazu bedarf es konzertierter politischer Anstrengung.
Bleibt die Frage, warum seitens der Ampelkoalition so wenig dazu zu hören ist. Hält sie die Sache eh für aussichtslos? Oder will sie nur vermeiden, sich mit der israelischen Regierung, auf deren Freundschaft man doch immer viel gegeben hat, anzulegen? Dabei ist es dringend geboten, Tacheles zu reden. (Inge Günther)