Vormarsch der Taliban verdeutlicht: Der Westen ist mehr denn je in der Pflicht
In Afghanistan fühlen sich viele von der Nato im Stich gelassen. Mehr denn je ist ihnen der Westen ein verantwortungsvolles Handeln schuldig. Der Leitartikel.
Die Nachrichten aus Afghanistan lesen sich wie eine Dystopie. Über das Land rollt eine Welle der Gewalt – und mit ihr breitet sich die Angst aus vor dem, was noch kommt. Die Taliban greifen sogar die Provinzhauptstädte an. Immer mehr Zivilist:innen sterben. An den Rändern der Städte wachsen trostlose Lager für Hunderttausende Menschen, die die Kämpfe in die Flucht getrieben haben. Zugleich formiert sich überall im Land Widerstand: Männer und Frauen bewaffnen sich mit Panzerfäusten und Kalaschnikows – Waffen, mit denen ihre Väter einst gegen die Sowjets gekämpft haben.
Die Zeiten stehen auf Bürgerkrieg. Und auf ein neues Schreckensregime der Islamisten. Das verarmte Land schaut in einen Abgrund, der tiefer nicht sein könnte. Das ist Afghanistan heute – nach dem Abzug der Nato-Truppen, nach 20 Jahren westlichen „Engagements“. Ein Begriff, in dem das vermessene Versprechen der Interventionsmächte mitschwang, für Sicherheit und Stabilität, Frieden und wirtschaftliche Entwicklung, Menschenrechte und Demokratie zu sorgen.
In Afghanistan regiert wieder die Gewalt – nach 20 Jahren westlichen „Engagements“
Der Westen wollte nur zu gern daran glauben, an diese gute Zukunft. Viele Afghaninnen und Afghanen wollten das auch. Und jetzt fragen sie sich: gehen oder bleiben? Die Nato hat uns fallengelassen wie eine heiße Kartoffel, sagen sie. Sagen die, die nun Mittel und Wege suchen, ins Ausland zu fliehen. Die Binnenvertriebenen, nach Schätzungen fast drei Millionen Menschen. Und auch die, die in ihren Heimatprovinzen bleiben, um zu kämpfen.

Der Westen liefert Afghanistan den Taliban aus – Frauen und Kinder sind besonders schutzlos
Man möchte ihnen guten Gewissen versichern können: Nein, wir lassen euch nicht im Stich. Aber wahr ist: Afghanistan ist ein verlassenes Land. Nach der weitgehend erfolglosen Intervention liefert der Westen nun mit seinem letztlich überstürzten Truppenabzug das Land an die Taliban aus. Der Hauruckabzug hat nicht nur den Weg frei gemacht für die Geländegewinne der Islamisten; er erlaubt ihnen auch, den sogenannten Friedensprozess weiter schleifen zu lassen. Ein Prozess, der nur dann funktionieren würde, wenn er alle politischen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen an einen Tisch brächte – und der zwingend eine Bedingung für den schrittweisen Rückzug aus dem Land hätte sein müssen. Nun aber erkämpfen sich die „Koranstudenten“ eine Machtbasis für spätere Verhandlungen ganz zu ihren Bedingungen.
Was das für die Menschen bedeutet, lässt sich erahnen. Frauen sind die Verliererinnen. Wie aus Taliban-Gebieten berichtet wird, dürfen sie wieder nur in männlicher Begleitung das Haus verlassen, Unverheiratete und Witwen werden zwangsweise mit Taliban-Kämpfern verheiratet. Auch sollen die ersten Mädchenschulen geschlossen worden sein. Nicht alle Berichte lassen sich bestätigen. Aber sie schüchtern schon jetzt, wie von den Radikalislamisten beabsichtigt, die Menschen ein: Herrschaft durch Terror. Die Frauen würden ihre Rechte nicht mehr aufgeben, behauptet Präsident Ashraf Ghani. Glaubt er wirklich, was er da sagt?
Fahrlässiger Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan – Umgang mit Ortskräften emblematisch
Die Beteuerung des Westens, man sehe sich weiter in der Pflicht, klingt hohl – solange sie nicht unterfüttert ist durch entsprechendes Handeln. Doch sogar an Nothilfe fehlt es. Das Flüchtlingswerk UNHCR beklagt, seine Projekte in Afghanistan und den Nachbarländern seien unterfinanziert. Für die internationale Gemeinschaft ist das eine moralische Bankrotterklärung.
Auch Deutschland, das sich einer besonderen Verbundenheit mit Afghanistan rühmt, tut sich nicht gerade hervor mit glaubwürdigen Signalen an die enttäuschten Menschen. Geradezu symptomatisch ist der schäbige Umgang mit den afghanischen Ortskräften, die jetzt die Rache der Taliban fürchten müssen. Warum war kein Platz für sie in den Bundeswehrmaschinen, mit denen die letzten deutschen Soldat:innen ausgeflogen wurden? Symptomatisch ist auch die skandalöse Weigerung der Bundesregierung, die Abschiebungen nach Afghanistan zu stoppen. In Deutschland ertönt zudem der Ruf, die EU müsse ihre Außengrenzen sichern. Da ist er wieder, der zynische Reflex auf Fluchtbewegungen: Mauern hoch. Hauptsache, man hält sich die Not der anderen vom Leib.
Diese Haltung ist das Gegenteil dessen, was Afghanistan jetzt braucht. Eine ehrliche Bilanz der Versäumnisse und Fehler, schnelle humanitäre Hilfe, diplomatische Initiativen, die auch den unseligen Einfluss anderer Staaten in dem Land einhegen, eine humane europäische Asylpolitik – und einen langen Atem.
In Afghanistan sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch – Es braucht kluge Gegenwehr
Auch die Taliban werden irgendwann um Wiederaufbauhilfe bitten müssen. Das ist der letzte Hebel, den der Westen nicht aus der Hand geben darf. Und den er klug einsetzen muss, damit sich nicht wieder eine korrupte Elite mit dem Geld aus dem Westen die Taschen füllt.
Gebraucht werden vor allem konkrete lokale Projekte in Gesundheit, berufliche Bildung und Entwicklung. Projekte, die den Menschen in den Provinzen ein Einkommen sichern – weitsichtig und auf Dauer angelegt. Denn anders als der Truppenabzug kennt die Verantwortung, die der Westen mit seiner Intervention für dieses Land übernommen hat, kein Enddatum. (Karin Dalka)